J. - "Breaking Point"

Begonnen von Lightning, 20 Mai 2014, 05:04:29

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Lightning

Vor ein paar Monaten habe ich über meinen Blog ein Mädchen aus den Niederlanden kennengelernt. Ich nenne sie hier kurz J.
Anfangs haben wir hauptsächlich über Musik geredet, wir haben die selbe Lieblingsband und, na ja, hassen quasi die selben Sachen. Und auch sind wir über Depressionen ins Gespräch gekommen. Wir haben schnell gemerkt, dass wir uns ähnlicher sind, als anfangs gedacht. Wir haben viel geredet, waren oftmals sehr nah "am Rand" (und du weißt, was ich meine), irgendwie haben wir uns durchgekämpft. Dann war einige Wochen Pause, keine schwerwiegende oder begründete Pause, nein sie ist mehr aus sich selbst entstanden.
Doch dann vor ein paar Tagen hat sie erneut geschrieben. Sie sagte, sie wäre am Ende, hätte ihren "Breaking Point" erreicht. Und sie würde das Ende dieser Woche wohl nicht mehr erleben. Ich wusste, dass es ihr schlecht ging, doch ich wusste nicht, dass es so schlimm war. J. ist 19, studiert. Ihre Mum hatte mal wieder einen ihrer nicht seltenen Selbstmordversuche unternommen und lag auf der Intensivstation. J. liebt ihre Mum und würde Alles dafür tun, um sie glücklich zu sehen. Doch gibt ihre Mutter ihrer Tochter nichts zurück. Nicht das Geringste. Und J. und ich wissen beide, dass sie aufgegeben hat. Wir hatte einen Song dafür und obwohl wir uns nicht vorher abgesprochen hatten, wählten wir beide automatisch den Selben Song: "The Last Time". 

"Again and again I try
to understand the demons inside your head,
but the truth is you love them to death.

Now, I know it's the last time I have tried
to lift you up to make you fight.
Nothing is ever easy in life.
I can't change it if you don't have the will deep inside."

Dann erzählte sie weiter. Ihre Wohnung wurde ihr gekündigt und in ein paar Wochen steht sie quasi auf der Straße, hat bisher nichts neues gefunden. Ihren Hund musste sie weggeben, weil sie ih nicht mehr behalten konnte, wegen der Wohnung und ihrer Mum und sie vermisste ihn schrecklich. Aber das ist nur das materielle Zeugs. Nur die Spitze des Eisbergs. Als ich dann nach und nach merkte, wie zerbrochen diese Seele ist, die da vor mir zu Grunde ging und immer noch versuchte die Scherben aufzusammeln, damit sich keiner ihrer Geliebten daran verletzte, hab ich geheult. Ich hab echt geheult. Wir haben so lange geredet, über Alles. Sie ist so eine wunderschöne, liebe Person, die ihr ganzes Leben lang versucht hat es allen Recht zu machen, ohne auch nur das Geringste dafür zurückzubekommen. Sie hat nicht auch nur das kleinste Kompliment angenommen, das ich ihr gemacht habe (und die waren alle hundertprozentig ernst gemeint und bestimmt nicht übertrieben). Wenn sie von sich spricht, dann kommt in jedem Satz irgendwo wertlos, Zeitverschwendung, Enttäuschung, schwach, weinerlich, nicht gut genug vor. Und es macht mich so unglaublich wütend wenn ich sehe wie so jemand von der Welt so zertrampelt wird, von Leuten, die gar nicht merken, was sie ihrem Umfeld antun. Und ich bin ehrlich: ich kann sie verstehen. Ich kann verstehen, dass sie nicht mehr will. Auch ich will nicht mehr und das aus weit weniger guten Gründen. Und auch darüber haben wir geredet. Den Tod. Lange und gründlich, ohne auszuweichen.
J. braucht eine Pause, zu diesem Schluss bin ich gekommen. Und wenn ich könnte, wenn ich nur könnte würde ich sie wegbringen, weg von diesen Leuten, weg aus dieser Stadt, ein paar Monate einfach weg von den Menschen, die Erwartungen an sie stellen, die sie unmöglich erfüllen kann. Ein paar Monate nur fort, um wieder Respekt und Liebe für sich selbst zu finden. Aber das ist Wunschdenken. Ich kann sie nicht wegbringen, ich kann ihr die Zeit, die sie so dringend braucht nicht geben. Und wir beide wissen, dass sie diese Zeit im Tod finden wird. Und das macht mich nur so unglaublich traurig. Und doch redeten wir weiter und bauten Vertrauen auf, während ich nicht einmal wusste, dass ich überhaupt noch in der Lage war, irgendwem zu vertrauen und schon gar nicht so.
Es war wie eine Rettungsmission von uns beiden. Keiner von uns hat auf den anderen eingeredet und gesagt, er solle nicht aufgeben. Ich habe J. nicht gesagt, sie solle weiterkämpfen. Nein, ich sagte: "tu, was dein Herz dir sagt. Und wenn es dir sagt, es ist genug, dann ist es genug. Es ist okay. Egal welche Entscheidung du letzten Endes triffst, es wird die Richtige sein."
Im Juni fahren ich und meine Eltern nach Amsterdam und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um J. zu besuchen, wenn sie dann noch da ist. Wenn nicht, nun, dann eben nicht. Doch sie hat mir versprochen Bescheid zu sagen und dafür zu Sorgen, dass ich es erfahre, wenn sie es geschafft hat. Das klingt alles so düster und horrormäßig und auf eine Art ist es das auch, aber ich weiß, dass ich J. nicht aufhalten kann und wer bin ich überhaupt anderen zu sagen, was sie zu tun haben, wenn ich selbst nicht besser bin. Doch musste ich auch ihr ein Versprechen geben, in diese Klinik zu gehen und sehen, ob es besser wird. Wenn nicht, nun, dann habe ich mein Versprechen zumindest gehalten. Ich weiß, dass J. Alles gegeben hat. Es ist keine spontane Entscheidung, die sie mal eben trifft. Sie weiß was sie tut. Sie hat ihren "Breaking Point" erreicht und ich akzeptiere das. Hingegen der meisten Meinung finde ich, dass es manchmal, nur manchmal, vielleicht das Beste ist. Doch solange sie noch hier ist, werde ich da sein, zu jederzeit und vielleicht werde ich sie nochmal in dem Arm nehmen und ihr einmal, wenigstens einmal das Gefühl geben, jemandem was zu bedeuten. Nämlich mir. Wer weiß, vielleicht geschieht ein Wunder und sie findet irgendwo die Kraft um weiterzukämpfen und wenn nicht, dann eben nicht. Und doch sitze ich hier und weine, wenn ich mir vorstelle eine so liebenswürdige und doch so zerbrochene Seele zu verlieren. Wer sie ist? Nun ja, in meinen Augen ist sie ein Engel, ein Engel der irgendwo in der Welt abgesetzt wurde, unfähig zu fliegen und auf der verzweifelten Suche die Liebe und Freude zu finden, die sie versucht anderen zu bringen, einen aussichtslosen Kampf kämpfend und nun schwer verwundet und einfach nur müde, nur so schrecklich müde, den Wunsch verspürt, nach Hause zu kommen. Doch am Ende wird Alles gut. Irgendwie wird Alles gut...

"I'll remember you, though. I'll remember everyone who leaves."

Epines

Hallo lightning

Es tut sehr gut eine Freundin im Leidensweg zu haben, mit der man Klartext reden kann.

Auch ich kann ihre Situation sehr gut verstehen, ich befand mich mit meiner Mutter in einer Ähnlichen. Ich habe mich retten können, indem ich mit 16 von zuhause weg bin und nie mehr zurückkehrte. Ich hätte bei ihr nicht überlebt, davon bin ich heute überzeugt!

Wenn Kindern die Verantwortung für ihre Eltern aufgezwungen wird, wird ihnen die Kindheit gestohlen. Man kann nie Kind sein, ist immer Elter und leidet mit den eigentlichen Eltern mit, fühlt sich für jede ihrer Stimmungen verantwortlich und wenn sie sich umbringen, sogar für ihren Tod.

Du hast Recht, sie muss da raus. Ein Studienjahr im Ausland würde sich in so einem Fall doch anbieten, oder ein Praktikum im Ausland, einfach weit weg von dieser Mutter. Wenn sie studiert hat sie durch die Uni viele Möglichkeiten, aber sie muss bereit sein ihre Mutter zu verlassen! Ein schwerer Schritt für jemanden der auf diese Weise manipuliert und unter großem emotionalem Druck steht. Pflichtgefühle sind sehr mächtig und schwer zu durchbrechen.

Es darf nicht sein, dass sie lieber stirbt, als ihre Mutter zu verlassen! Sie hat auch ein Leben und um ihre Mutter müssen sich andere kümmern, diese gehört in eine Klinik.

Als ich nicht mehr für meine Mutter verantwortlich war, schaffte sie es plötzlich auch alleine, sie lebt heute noch...manchmal nimmt man ihnen als "brave Tochter", unter dem Einfluss des emotionalen Stresses auch zu viel ab.

Heute mit Distanz sehe ich vieles anders, damals als Kind hatte ich panische Angst sie zu verlieren, irgendwann wäre ich froh gewesen, wenn sie es getan hätte, einfach um endlich frei zu sein, um aufatmen, um leben  zu können. Heute ist mir egal was sie tut, es ist ihr Leben und ihre Entscheidung und ich bin froh keinen Kontakt mehr haben zu müssen. Erstaunlicherweise geht es ihr nun ohne mich auch gut! Sie kann ihr Leben also meistern, wenn sie muss.

Du musst einfach aufpassen, dass du dich nicht zu sehr von ihrem Schicksal herunter ziehen lässt, denn dies geschieht meist schneller als man denkt.

Sintram (ein User hier) hat mir vor Jahren einmal gesagt, dass sich viele Menschen die gehen wollen, einen Todesengel suchen, mit dem sie all ihr Leid teilen können und der sie auf ihrem letzten Schritt begleitet.
Ich habe dies bei meiner Freundin Karen genau so erlebt, sie hat vor bald 6 Jahren den Freitod gewählt und es hat mich sicherlich zwei Jahre so heftig geschmerzt, dass ich es kaum ohne sie aushielt und am Anfang habe ich darüber nachgedacht ihr zu folgen.
Vielleicht hast du Lust/Zeit die Geschichte mit Karen zu lesen:
http://www.nur-ruhe.de/smf/index.php?topic=709.msg146425#msg146425

Daraus habe ich gelernt, dass wer selber nicht ganz stabil ist, anderen nicht helfen kann, sondern eher mitgerissen wird.

Pass einfach auf dich auf!

Alles Liebe
Epines

Lightning

Wir haben es geschafft! Ich denke wir sind über den "Brennpunkt" hinaus. Bei J. läuft immer noch einiges richtig beschissen, ihr Vater ist echt ein A***loch, ungelogen. Jetzt will er ihr nichts mehr zahlen, ob wohl er das nach dem Gesetz muss, bis sie 21 ist. Es macht mich so wütend zu sehen, wie jemand so schönes und nettes, von anderen Menschen wie Dreck behandelt wird, sogar von den eigenen Eltern. Das tut ihr so weh... und ich kann nichts tun.
Nächste Woche ist es endlich so weit!!! Wir sehen uns!
Ich glaube, ich bin verliebt... was irgendwie seltsam ist, da wir uns noch nie persönlich gesehen haben, außer eben Fotos.
Aber irgendwie ist es auch nur natürlich. So auf Partys und man neue Leute sieht, wählt man seine Gesprächspartner nach Aussehen aus, so nach dem Motto "boah, die ist heiß", Charakter ist da nebensache. Aber so verfällt man den Wörtern, den Gedanken einer anderen Person, man verliert sich da drin und lernt einen wirklich kennen. So war es zumindest bei J. und mir. Wir reden über Dinge, die ich sonst nie jemandem anvertraue und es fühl sich einfach nur unheimlich gut an.
Ich weiß, dass jetzt gleich wieder die großen Zweifler kommen von wegen, sie könnte auch ein 50 jähriger Kerl sein und alles... aber ganz ehrlich, wenn man nach Monaten von täglichem Schreiben über die intimsten Gefühle nicht herausfindet, ob es gestellt ist oder nicht, dann ist mal selber schuld. Ich hab ein gutes Gefühl und ich wünsche mir so unheimlich, dass es funktioniert, dass es fast schmerzt. Mir geht es die letzten Wochen echt besser, auch wenn ich nach wie vor immer wieder Durchhänger habe, aber das ist ja klar. Ich bin jetzt einfach nur froh, das J. über den Punkt hinaus ist, wo ich jeden Tag Angst haben muss, sie zu verlieren.
Ich bin verliebt und es fühlt sich gut an, fertig, das Glück lass ich mir nich kaputt machen, erst Recht nicht von Aussagen wie "Internetbekanntschaften funktionieren nie" und "man kann nur im wahren Leben echte Freunde finden", go f*** yourself!
Vielleicht geht es in die Brüche, keine Ahnung, aber nicht bevor wir es überhaupt versucht haben.
Wir machen uns ein paar schöne Tage nächste Woche und sehen, was passiert.

Siny

Ich wünsche euch beiden alles Gute! <3
Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.

(Jean-Jacques Rousseau)

Lightning


nubis


Internetbekanntschaften funktionieren!
und man kann nicht nur im wahren Leben echte Freunde finden!

- und ich wünsche euch viel Glück bei dem Aufbau einer Beziehung in Liebe und/oder Freundschaft!
Gegen Schmerzen der Seele gibt es nur zwei Arzneimittel: Hoffnung und Geduld

(Pythagoras)

Lightning

Aww, das ist so lieb von euch, danke :)

Siny

Zitat von: nubis in 31 Mai 2014, 00:09:25

Internetbekanntschaften funktionieren!
und man kann nicht nur im wahren Leben echte Freunde finden!


Das kann ich nur unterschreiben! :) <3
Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.

(Jean-Jacques Rousseau)

Lightning

Oh man, ich freue mich so auf unser Treffen... und sie hat mir grad geschrieben, dass sie das Gleiche fühlt!!! *tanz, freu, hüpf

Epines

Liebe Lightning

Wie war denn dein Treffen? Haben sich deine Erwartungen erfüllt?
Erzähl doch mal was.

Liebe Grüße
Epines

Lightning

Hey...
Das Treffen an sich war einer schönsten Tage meines Lebens. Wir haben so wunderbar miteinander geredet, über Alles. Zum Teil haban wir auch nur geschwiegen und auf diesem Hotelbett gelegen und uns nur angesehen (ihre Augen hatten dabei einen Glanz, den ich wohl nie vergessen werde. Und ihr Lächeln erst...), am nächsten Tag haben wir bei einem Spaziergang noch einen traumhaft schönen See gefunden, so typisch holländisch mit Windmühle und allem.
Na ja, aber die Umstände waren nicht so gut. Meine Mum war ziemlich high und ich hatte den Streit meines Lebens mit ihr, das habe ich immer noch nicht verkraftet, manchmal kriege ich noch Panikattacken davon. Der Aufenthalt in Amsterdam war alles in Allem ein Albtraum, aber das Treffen mit J. war es wert.
Auf jeden Fall sind wir mehr als Freunde mittlerweile und ich kann es gar nicht abwarten, sie endlich wiederzusehen. Allerdings bin ich jetzt in einer Klinik und werde da wohl auch die nächsten acht Wochen nicht rauskommen, also muss das noch eine Weile warten ;(

Epines

Hallo

Dass freut mich für dich, erhole dich gut in der Klinik.

Liebe Grüße
Epines