Auf Wiedersehen, Engel

Begonnen von Lightning, 30 April 2014, 00:04:47

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Lightning

Die Wellen brechen sich an den rauen Klippen und die Gischt wird vom Wind fortgetragen, weit hoch in die Wolken. Das reine Weiß schmerzt in den Augen. Leichter Wind zerzaust ihr Haar. Alles ist still außer dem Rauschen des Meeres. Nur ein Schritt... ein einziger kleiner Schritt entfernt vom Abgrund, entfernt vom Tod. Alles ist so... zerbrechlich. Sie sieht  hinunter auf die scharfen Klippen, ganz weit unten, wie die Zähne eines toten Urzeitmonsters, und sie fragt sich, wie ihr Körper wohl aussehen würde dort unten, umspült von kaltem Wasser, mit gebrochenen Knochen und verdrehten Gliedmaßen. Und ihre Augen... würden ihre Augen offen oder geschlossen sein?
,,Bist du ein Engel?", fragt plötzlich eine Stimme. Erschrocken dreht sie sich um, ihr Herz rast vor Angst. Würde wieder jemand kommen und sie zwingen einen weiteren Tag diesen Horror durchzustehen? Doch dort steht kein Polizist, kein argwöhnischer Wanderer oder verständnisloser Erwachsener, der versucht sie wieder nach Hause zu zerren, einzusperren in einem Albtraum, aus dem sie nicht aufwachen kann. Stattdessen steht dort ein Junge, vielleicht  zehn, elf Jahre alt, und beobachtet sie mit einem neugierigen Blick. Sie ist überrascht jemanden hier oben zu sehen. Normalerweise kommt niemand hier her, erst Recht keine Kinder. Einen Moment lang sucht sie die Bäume und den Weg ab, der auf die Klippen führt, doch es kommt niemand. Der Junge ist allein. Sie erinnert sich an seine seltsame Frage.
,,Ehm, nein. Ich bin kein Engel", antwortet sie schließlich. Der Junge sieht sie immer noch an.
,,Aber meine Mum hat mir erzählt, dass Menschen mit Zeichen an den Armen Engel sind".
Unterbewusst streicht sie sich über die Narben und Schnitte an ihren Unterarmen, während sie ein weiteres mal sagt: ,,ich bin kein Engel", leiser diesmal, mit gesenktem Kopf, beschämt, dass dieses kleine, unschuldige Kind sieht, was sie sich selbst antut.
,,Natürlich bist du das! Meine Mum hat gesagt, dass nur Engel sich selbst verletzten, weil sie das Leben auf der Erde nicht mögen. Die Welt zerstört sie, deswegen versuchen sie zurück in den Himmel zu gehen. Sie sind zu sensibel für den Schmerz von anderen und ihren eigenen."
Eine ganze Weile lang sieht sie den Jungen nur an, während die Worte in ihrem Kopf widerhallen.
Es ist nicht länger wichtig, was er hier oben macht, oder wer er ist. Er sagt nichts weiter, sieht sie nur an, mit einem unbeschwerten Glanz in den Augen und einem sanften Lächeln im Gesicht.
Er kommt auf sie zu, nimmt sie wie selbstverständlich bei der Hand und stellt sich neben sie, sieht hinaus auf Meer, wo die Sonne gerade untergeht und den Himmel in warmes Orange taucht.
,,Weißt du, deine Mum ist sehr weise", sagt sie schließlich nach einer Weile. Der Junge sieht sie an, lächelt.
,,Danke, sie ist auch ein Engel, aber sie ist schon zurück nach Hause gegangen", sagt er, sieht hinauf in den weißen Himmel. Sie kann nichts sagen, steht nur da und spürt, wie der Junge sich wieder von ihr löst.
,,Auf Wiedersehen, Engel". Und bevor sie noch etwas erwidern kann ist er schon verschwunden, läuft unbeschwert den Weg entlang, der zurück ins Tal führt. Als sie ihn nicht mehr sehen kann, dreht sie sich wieder dem Meer zu, ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht. Die Sonne neigt sich dem Horizont und dort wo sie durch die Wolken bricht, wird der Himmel erleuchtet in sanftem Orange und Gelb, das sich tausendfach im schwarzen Wasser bricht.
,,Engel können fliegen", flüstert sie und springt.


irene


Siny

Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.

(Jean-Jacques Rousseau)

Lightning


Ahote

Zitat,,Engel können fliegen", flüstert sie und springt.

So viel Traurigkeit...
So wenig Worte braucht es...
So viel Schmerz...
So berührend...

Danke dafür