Memento Mori Desperados

Begonnen von Sintram, 22 Juni 2010, 15:12:23

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Sintram

Tja Barney, wenn ich mich recht erinnere, warst Du der erste von uns der ging.
Schulkamerad und Indienreisender, was hast Du gesehen, erlebt, das Du nicht verkraften konntest?
Du warst in Ordnung, Dein Haschisch hatte beste Güteklasse, es war gemütlich bei Dir und Deiner Gefährtin, mystisch und indisch. Was verdammt noch mal hat Dich auf die Nadel gebracht?
Der Tod kam Dir entgegen, holte Dich in der Nacht nach einem Autounfall, stillheimlich mit Hilfe einer Hirnblutung. 1979 muss das gewesen sein, bist mir in Deiner Todesnacht ganz deutlich und real im Traum erschienen, keine Bange, das Gesagte bleibt unter uns.

Dann Du, Luck, mensch Mann, Freund und Bruder.
Hast Dir in Indien die Gelbsucht eingefangen, und zeitlebens danach unter massiven Migräneanfällen gelitten. Schwere Depressionen lähmten Dich, ich erinnere mich gut. Lebten ja Jahre in der Kommune zusammen.
Warum bist Du gegangen, während wir noch furchtbar zerstritten waren? Wegen einer Frau, an sich ein Unding, und wenn ich mir heute vergegenwärtige was für ein Weibsstück sie war- was für ein Unfug!
1981 war´s. Am Schrank erhängt, was hast Du uns da mitgegeben?
Aber heute bin ich Dir längst wieder gut, Dein Freitod hat mein Leben nicht unwesentlich beeinflusst, und zwar positiv.

Dieter, unser Dieter.
Edeljunkie mit Charakter und jeder Menge Humor. Heroinsüchtig noch vor der Pubertät. Knasterfahren, Psychiatrieerfahren, wie viele Entzüge Du wohl hinter Dir hattest?
Und dann diese unheilvolle "Einweisung auf unbestimmte Zeit", die Dich nach Indien ins Exil getrieben hat. Ich erinnere mich an den Abschied, als sei´s gestern gewesen, ich wusste, dass es ein Lebewohl für immer sein würde.
Drei Jahre hast Du noch durchgehalten unten, erstaunlich lange. Und 1983 dann Deine Todesnachricht. Offizielle Todesursache "Verhungern". Du hast mich gelehrt, wie wertvoll Todgeweihte als Mensch sein können.

Tarzan, mein alter Freund, Saufkumpan, Mitkommunarde, "mein" Schlagzeuger.
Ich kann verstehen, dass Du nicht mehr wolltest. Frau weggelaufen, Kinder entzogen, Arbeit verloren... und dann offene TBC, was braucht ein Mensch mehr um zu zerbrechen?
Hast es sogar noch geschafft, das Rauchen aufzuhören. Nur der Alk, der gnädige grausame Alkohol hat Dich nie mehr losgelassen. Und ich schaffte es einfach nicht, Dir beim Sterben zuzuschauen.
Hast Dich systematisch und regelrecht zu Tode gesoffen. Das konnte ich nicht ertragen, und ich denke, das weißt Du. Mitte der Neunziger muss das gewesen sein. Hab Dein Grab mal besucht, war gut gepflegt.

Albert warum?
Heroinsucht besiegt, Tod Deiner Frau überwunden, als Taxifahrer Fuss gefasst. Warst doch gut drauf, alle mochten Dich. Warst eine "Institution". Und gibst Dir mir nichts Dir nichts den Strick. Irgendwann in den Neunzigern, da hattest Du doch schon alles hinter Dir. Ich fasse es bis heute nicht.

Seemann, alter Häuptling und Weiser der Straße.
Hast mich viel gelehrt damals. Über das Leben und die Menschen, ihre Maskeraden und Schauspielereien. Du warst gepegelt mann, ich wär sofort an Alkoholvergiftung gestorben. Da ging es Dir erst richtig gut. Jedenfalls bis zum nächsten Magendurchbruch.
Am besten hast Du mir gefallen, wenn Du in der Fuzo gepredigt hast, weißt Du noch? "Ich habe den Herrn gesehen. Ihr Heuchler und Blender, ihr Lügner und Prasser..." Doch, gefiel mir ganz ausgezeichnet. Die Leute gerieten ja richtig ins Laufen.
Mir hast Du mal erzählt, wann und bei welcher Gelegenheit. Abgestürzt beim Entrosten eines Hochseedampfers, lange im Koma gelegen. Hinterher Frau weg, Arbeit weg, Wohnung weg. So schnell kann´s gehn.
Zuletzt wars ja ein gnädiger Tod. Anfang der Neinziger. Hirnschlag, allemal besser als Leberzersetzung. Denk oft an Dich.

Wu, der Bär.
Was für ein Original Du doch warst. Extheologiestudent, gebildet, geistreich, humorvoll. O mann, was haben wir gefeiert und gelacht und Spass gehabt. Drei Tage volldampf durchs Nirvana. Ich freute mich immer, Dich zu sehen, weißt Du noch, als... nö nicht hier.
Und dann diese Sch...Malaria. Was hattest Du auch in Thailand verloren? Sie hat Dich ausradiert.
Hast Dich zuletzt völlig zurückgezogen, was ich so hörte, war seinerzeit schon lange nicht mehr vor Ort. In ein altes Häuschen im Stadtpark am Burghang, ich kannte die maroden Dinger. Ein Platz zum Sterben, alter Indianer.
Und einer Deiner Malariaschübe hat es dann offenbar geschafft, warst ja schon tagelang tot, als sie Dich fanden.
Irgendwann Anfang dieses Jahrtausends, oder wars Ende des letzten? Ist ja völlig egal.
Carry On!

Und dann Du Verena, Mutter von sechs Töchtern.
Reden wir nicht mehr davon. Meine Ehe war eine Katastrophe und Dein Mann genau so, kein schlechter Kerl, aber Frauen gegenüber hilflos wie ein kleiner Junge. Was für ein Kreuz. Da kommt so was schon mal zustande.
Krebs, mit fünfzig, schon elendiglich früh. Warst ein guter Mensch, hast Dir nur immer viel zu viel gefallen gelassen. Das ist ungesund, immer die Märtyrerin sein zu müssen, Dein tiefer Glaube her oder hin.
Naja, jetzt hast Du ja Dein Licht gesehen. Kannst ja mal ein gutes Wort einlegen für mich.

Clemens... was soll ich sagen?
Hast Dich für andere aufgebraucht. Sinnvoll. Was will man mehr?
Kettenraucher sterben mitunter verfrüht an Herzinfarkt, aber gut, bei Deinem Irrsinnspensum an Hilfesuchenden, da musst Du zum Raucher werden. Noch dazu mit Härtefällen wie ich einer war.
Ist irgendwie dumm gelaufen damals das Ganze. Da war nichts Gemeinsames mehr möglich. Wie das Leben eben mitunter so spielt.
Vergessen und vorbei.

Und das sind nur die Wichtigsten. Ein Dutzend hab ich im Nu zusammen. Und ich- ich bin immer noch da.
Tja, es muss ja auch Überlebende geben, denk ich mal.





Sintram

Am Sterbebett des Vaters

Dein Körper bebt
der Muskel zuckt
verdreht die leeren Augen
was da noch lebt
Dich nicht mehr juckt
der Kopf will nicht mehr taugen

Erloschen ist Dein Lebenslicht
obgleich das Herz noch schlägt
Du bist nicht mehr zugegen
Du spürst nichts mehr und hörst mich nicht
ich bin es der es nicht erträgt
seit nackt Du dagelegen

Ein letztes Flackern in den Augen
die suchend sich in Leere saugen
so bist Du hingeschwunden
hab sterbend Dich gefunden
die Helfer waren rasch zur Stelle
doch Du warst jenseits aller Helle
bist in die Nacht gesunken
Dein Geist er ist im Blut ertrunken

Starbst einem Kopfschuss gleich
mir blieb nur Ohnmacht über
sah Dich ins Jenseits gleiten
noch lebend bist Du eine Leich
sag schwebst Du schon darüber
ich kann Dich leider nicht begleiten

Obgleich Dein Atem geht
der Kreislauf wieder steht
das Auge ist erloschen
man hat Dich totgeschossen
bald wird das Herz begreifen
die letzte Hülle abzustreifen
ist Deine alte Seele reif
auch wenn ich’s jetzt noch nicht begreif

Was hab ich Dir zu sagen
das hat schon seine Richtigkeit
der Frieden ist gemacht
wir konnten uns zuletzt ertragen
hab Dich gemocht in dieser Zeit
manchmal sogar mit Dir gelacht

Da ist kein Groll kein Zorn
und nichts mehr nachzutragen
kein Gestern vorzuhalten
ich schau ins Heute und nach vorn
es gibt nichts mehr zu sagen
wir sind uns ähnlich in Gestalten

Ich hab genug verbrochen
in meinem wilden Leben
um keinen mehr zu richten
genug Verrat gerochen
um alles zu vergeben
bald wirst das Licht Du sichten

Vor Gott hab keine Angst
der Du in Deiner Seele bangst
er hat durchs Dasein Dich geführt
auch wenn vom Teufel Du verführt
so ein ums andre mal
Du littest Deine Seelenqual
bereits in diesem Leben
der Rest sei Dir vergeben

Ich bin Dir fremd geblieben
in Denken und Gemüt
bezwang des Zornes Ungestüm
blieb ruhelos umhergetrieben
von anderem Geblüt
doch nichts des ich mich rühm

Ein tiefer Atemzug
jetzt liegst Du ruhig still
bewusstlos und entrückt
geleert der letzte Krug
erreicht das letzte Ziel
und bald bist Du entzückt

Was gibt es noch zu tun
gegangen bist Du nun
ich konnt´ es nur betrachten
und Dich im Sterben achten
nun mögen die Geschwister kommen
der Geist ist Dir bereits genommen
die Seele auf dem Weg
die ich in Gottes Hände leg

Wir haben gut getan
als wir Versöhnung wählten
das Gestern ließen ruhn
nach all dem Streit und Wahn
uns nicht mehr länger quälten
es gibt nichts mehr zu tun

persephone

#2
Traurig und schön zugleich.

Sintram

Leichenschmausrede

Nein es ist nicht gut
kann mir erzählen was da will
der Pfaffe und die fromme Schwester
in ohnmächtiger Wut
steh ich nicht schweigend still
die Vögel haben ihre Nester
doch grausam brennt der Sonne Glut
der Mensch ist doch kein Sondermüll
verzeiht mir wenn ich läster´
doch dieses Leben ist nicht gut

Der Tod ist ein Verbrecher
ein übler schlechter Wicht
der die Geliebten von uns reißt
ich bin des Rechtes Rächer
und Wahrheit schert mich nicht
wenn Trauer eben Trauer heißt
mit Finsternis füllt die Gemächer
verschlingt das unbeschwerte Licht
uns in die wunden Herzen beißt
der heilge Gral ist nur ein alter Becher

Was nützt mir Auferstehung
wenn ich vor Gräbern stehen muss
nur Stein und Erde schauen kann
die frömmelnde Begehung
verhindert nicht den Todeskuss
vertreibt nicht seinen Bann
ich fluche auf der Erde Drehung
und pisse in des Lebens Fluss
kehr ihm den kalten Rücken irgendwann

Will eine neue Erde haben
denn diese ist nicht gut genug
ein Trugbild voller Schmerzen
will mich an andern Quellen laben
an reinen Wassern ohne Lug
ich hab genug von schweren Herzen
verschmähe dieses Erdendaseins Gaben
weil nichts sie sind als nur Betrug
ein volles Maß an üblen Scherzen
ein Fraß der schwarzen Raben

Des Lebens eitle Freuden
rafft doch der Tod hinfort
und keine Träne kann erwecken
die Liebsten die uns weggenommen
was nützt es wenn in himmelstürmenden Gebäuden
in Kirchen und an allerlei geweihtem Ort
wir unsre Arme gegen Himmel recken
noch keiner ist zurückgekommen
wenn wir mit schallenden Geläuten
verkünden einen weitren feigen Mord
der Krankheit Pein kann mich am Arsche lecken
ich pfeife auf die Demut aller Frommen
verfluch die Pest und ihre grauenhaften Räuden

So lange eine Träne fließen muss
aus Augen die es nicht verdienen
und Trauerweiden ihre Herrschaft in den Seelen gründen
will ich der Sterblichkeit den Stinkefinger zeigen
denn was ich fühle ist der pure Überdruss
wenn ich betrachte tiefgegrämte Trauermienen
die Gottesdiener höre artig Trost verkünden
zum jämmerlichen Klang verstimmter Trauergeigen
denn nichts als Lüge ist es blanker Stuss
ich spotte und vergebe ihnen
mag alles Leben in die Ewigkeiten münden
was soll der lächerliche Blumenreigen
wenn jeder noch so süße Säugling einmal sterben muss

Seht her ich heb mein Glas auf alle Todgeweihten
weil sie die wahren Helden sind
die ihre holde Stirn den Allgewalten bieten
mit ihrem Einverständnis deren Macht bezwingen
sie sind die einzigen Befreiten
gewaltig wie der stolze Sturmeswind
da Tod und Schmerz in ihren Eingeweiden wüten
wenn sie in ihren Fieberträumen mit den Engeln singen
sie möchten alle Lebenden auf ihrer letzten Schwelle leiten
und aller Augen öffnen die da blind
sie auf dem schwersten Gang behüten
wenn ihre Totenglocken klingen
und führen in die großen Weiten


Sintram

Nachruf (2005)

Du Mutter bist gestorben
noch vor dem neuen Morgen
hast doch zuletzt verstanden
dass ich aus fremden Landen
zu Dir in jene Wiege kam
als ich aus blindem Zufall
                in Dir Wohnung nahm

Hast aufgegeben zu verstehn
ließest mich eigne Wege gehn
hast zuletzt sogar geschätzt
was ich Dir alles aufgeschwätzt
hast mich losgelassen
konnt´st mich nicht mehr fassen

Mit Dir ging ein Pol
weiß nicht warum ich lügen soll
ein finanzieller Halt
profan und dergestalt
ich nahm es hin als Schmerzensgeld
pfiff weiter auf die ganze Welt
                   und was mich hier erhält

Nun bist Du fort
die Welt bleibt weiterhin ein fremder Ort
warum Du mich geboren hast
das frag ich immer ohne Rast
hat mich doch Deine Brust ernährt
und das fürwahr war nicht verkehrt

Du wolltest mich erhalten
ich sollt´ in Deinem Haushalt walten
nun starbst Du hin
an Krebs und ohne tiefren Sinn
mein Vater bleibt mir fremd
mir ferner als der Rock dem Hemd

Ich hätte Dich gepflegt
doch Du hast Dich zum Sterben hingelegt
wurdest hinweggerafft
hat ganz schön mich geschafft
ich bat Dich um Vergebung
Versöhnung war zuletzt  
                    die einzige Bestrebung

Nun Mutter lass Dir sagen
will Dich nicht weiter plagen
Du hast mich nie begriffen
mein Wesen nur gestriffen
hast es wohl gut gemeint
doch ich hab mich zu Tod geweint

Ich war allein bei Dir
ich war Dir keine Zier
die Hoffnung ging dahin
weil ich ein andrer bin
den Du nicht lieben konntest
weil Du Dich in Erwartung sonntest

Ich habe mich befreit
mir zur Freude Dir zum Leid
ich bin ein Sohn der Nacht
hab all Dein Bangen umgebracht
war grausam oft und roh
nun denn Du warst es ebenso

Ich bin Dir nichts mehr schuldig
ertrug Dein Altern recht geduldig
was Du an mir verbrochen
hat Gott mit Dir besprochen
nun spreche Du für mich
denn wisse dies ich liebte Dich

Sintram

#5
Für Löwenzähnchen, unser geliebtes Eichhörnchen...

Ich sprech jetzt einfach mal für mich.
Wenn ich mir so überlege, was ich alles durchgemacht habe im Leben, kommt -ohne dass ich rumtönen will- schon einiges zusammen.
Es klingt verrückt, aber was der kleine Kerl mir angetan hat, gehört zum schlimmsten.
Ist aber nicht verwunderlich, denn was er mir -uns- geschenkt hat, gehört zum schönsten

Löwenzähnchens Lichtstrahl kam aus einer andern Welt, ohne unsere Haustiere zu schmälern, es ist einfach so.
Er war wie ein kleines Fenster in die wirkliche Welt, an deren Rand wir Menschen leben, egal wie sehr wir uns breitmachen und deren Territorien zerstören- wir werden immer wie Fremde am Rand dieser eigentlichen Welt leben.

Haustiere bleiben Kinder, selbst Katzen kommen bei all ihren Majestätsallüren nicht über die verzogene Gör hinaus.
Löwenzähnchen aber war tatsächlich ein König, er fühlte sich nicht nur so, er regierte in seiner eigenen Welt, die wir nur durch ihn erfuhren.

Dieses Fenster in sein verborgenes Reich, das er uns geöffnet hat, wird für immer offen bleiben.

Wer so oft und bitter von Menschen enttäuscht wurde, wie es mir widerfahren, der kommt irgendwann an den Punkt, an dem er ihnen weitestmöglich aus dem Weg geht.
Das ist eine ganz nüchterne und ruhige Entscheidung, hat nichts mit Verbitterung oder Misantrophie zu tun, auf Menschen ist einfach kein Verlass, und deshalb lasse ich mich nicht mehr auf sie ein.
Sie haben mir genug weh getan und viel zu wenig dafür gegeben. Der Kontakt zu ihnen ist kontraproduktiv für mein Wohlbefinden.

Klingt hart, ist aber ganz banal.

Ich kann härter sein als Granit, kälter als Eis, ein hartgesottener abgebrühter Desperado, wenig was mich rührt, aber dieser kleine Kerl hat mich "geknackt".

Ein zahmes Wildtier ist ein großes Stück Glück.
Sein Trapsen auf dem Boden, seine Begrüßungsrituale -Nase an Ohr, Lippen- sein unerbittliches Fordern nach frischer Milch, aus der Spritze verabreicht wie seinerzeit als Baby, das gemeinsame Müslifrühstück, seine favorisierten Schlafwinkel unter dem Shirt an unseren Körpern, seine "Ausritte" auf meiner Schulter, im Nacken meiner Frau, oder unserem Scheitel als Aussichtspunkt...
er kannte uns, kommunizierte mit uns, aber ganz anders als ein Haustier, er war kein Untergebener, kein Höriger und auch kein Opportunist, sondern ein gleichberechtigtes Gegenüber, eine winzig kleine selbstbestimmte große Persönlichkeit, ja ein Hausgenosse und enger Freund. Wie ein erwachsenes winziges Kind.

Das klingt seltsam, aber so war es nunmal.

Wir bekamen ihn mit zwei Wochen, blind und fast nackt, aus dem Kobel gefallen, und als die Zähne wuchsen, standen sie schief. Sein Unterkiefer war gebrochen und verschoben.
Wir konnten ihn nicht auswildern, die Nager nutzten sich nicht ab und wuchsen und wuchsen. Mussten alle Woche gekürzt werden.
Der Versuch, ihm die unteren Schneidezähne operativ zu entfernen, kostete ihn fast das Leben. Und einer wuchs nach, alles vergeblich.

Er ist dem Tod so oft von der Schaufel gesprungen, er hat so viel gelitten mit seinen kaputten Kiefern und Zähnen-zuletzt saßen seine oberen Backenzähne auf Eiter, er konnte nur noch mittels Antibiotika und Schmerzmittel leben-und die letzte Operation, der Versuch, ihn von seinen chronischen Schmerzen zu befreien, hat er nur einen Tag überlebt.
Kleinnager können an Zahnoperationen sterben, das wussten wir. Aber wir hatten keine Wahl. Sein Gesichtchen war seit Monaten geschwollen, nichts half.

Aber er war unverwüstlich, so unendlich tapfer, sein ungebrochener Lebenswille, sein unsagbar feines und intuitives Wesen,
und doch so voller Eigensinn und Laune, ja so absolut direkt und ohne Falsch, all das hat uns Tag für Tag sehr viel Mut gemacht, hat uns getröstet, erheitert, eben einfach beglückt.

Und ohne dass wir es merkten, ist er unendlich tief in unser Herz hineingewachsen. Tiefer als je ein tierisches "Kind" zuvor.

Er war einfach mein kleiner "Zähnemann", anders kann ich es nicht nennen.
Wie wäre es dem Meister Eder wohl ergangen, wenn sein Pumuckl gestorben wäre?

Ich geniere mich nicht für meine Trauer und meinen Schmerz. Wer das nicht erlebt und erfahren hat, nun, der kann es nicht verstehen.
Meine Trauer ist aufrichtig, wahrhaftig und sehr sehr tief.
Das Licht in meinem Leben, das mit ihm erloschen ist, wird nie mehr leuchten.
Wenn es sowas gibt wie eine Ewigkeit, und mein Zähnemann wartet dort nicht auf mich, will ich gar nicht erst hin.

Zähnemann hat uns verlassen.
Die Leere, die er hinterlässt, ist absolut.
Das Fenster ist offen, aber es fällt kein Licht mehr herein. Auch draußen ist es Nacht geworden.
Wir sind verloren.



...


Sintram

Begräbnis

Die Erde dreht sich weiter
völlig ungerührt
als wäre nichts geschehen
als wär´ ihr Wesen heiter
sie hätte keinen Schmerz gespürt
und keiner Tränen Strom gesehen
kann es das wirklich sein
sag was ist daran gut und rein

Da wird ins Grab gelassen
die gestern noch lebendig
zu ihren Lieben sprach
nun hat sie sie verlassen
das Dasein ist halt endig
vorbei ist alles Weh und Ach
doch denen die zurück geblieben
hat dieses nicht den Schmerz vertrieben

Weshalb bleibt sie nicht stehen
die Mutter Erde wird genannt
ein paar Sekunden nur
die Erdentochter anzusehen
die nun in ihren Schoß verbannt
zurückkehrt zur Natur
ist sie den Augenblick nicht wert
das ist mit Sicherheit verkehrt

Nur jene kann sie Erde nennen
durch ihren Geist ist sie erkannt
ansonsten ist sie nur ein blinder Stern
kann weder Zeit noch Raum erkennen
bis eines Tages sie verbrannt
zusammenschmilzt bis auf den Kern
was ist von ihr geblieben
wer hat in ewig Worten sie beschrieben

Sie mag sich weiter drehen
ein seelenloses Nichts
ein blauer Ball nicht mehr
auch ihre Schönheit wird vergehen
am Tage des Gerichts
steht ihre Wohnung leer
dann werd ich ebenso mich trauen
ihr totes Antlitz nicht mehr anzuschauen

musicus

#7
Sintram, ich kenne Dich nicht,
aber Deine Worte gehn mir so nah,

treiben mir die Tränen ins Gesicht.
ich Dich noch nie sah......

Du bist ein so wertvoller Mensch, noch nie hat mich Jemand so schnell und tief berührt,
als Du mit Deinen Zeilen......ich bin einfach von Deiner Einstellung schwer beeindruckt
und von Deinen Zeilen.

Ich sitz da, heule jetzt und ein paar alte Wunden lösen sich, Du hast mich zutiefst berührt.
ICH DANKE DIR !

Vielleicht kannst Du mir ja auch ein paar Zeilen schreiben.....würde es mir einfach wünschen,
es würde noch ein paar Wunden heilen.


musicus musicus musicus



Sintram

Ich trauere mit Dir
Auch um Zahnemann
Ich kann es verstehn
Wir haben zu Hause einige Tierchen und
ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, dass mich
eines Tages eines der Tierchen verlässt.

Trotzdem nehme ich unter Verzicht wenn ich ein paar Cent extra habe,
die Ärmsten Hunde auf, wir haben 3 eigene und hatten schon 5
Pflegehunde, die auf einen eigenen wunderschönen, neuen grossartigen
Platz vermittelt worden sind.

Ich liebe auch jeden einzelnen Fisch in unserem Aquarium.
Sie sind klein, aber jeder Einzelne hat Persönlichkeit und ist wunderbar.
Sogar die kleinen Schneckchen sind wunderschön und haben ihr Leben und Verhalten.

Wir hatten Katzen - die leider schon vor jahren verstorben sind oder erlöst werden Mussten.
Wir retteten aus ganz schlechter Haltung 2 Wasserschildkröten.

Jetzt habe Ich derzeit keine Kraft, es ist grade kein extra Geld da.
Ich leiste mir sehr wenig, für Tiere setze ich das Letzte ein.

musicus

Sintram

Hallo musicus,

das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Tiere nicht grundsätzlich als Antidepressiva verschrieben werden:
Weil sie vor uns sterben und wir ihren Tod und Verlust verkraften müssen. Für Normalsterbliche schon nicht so ganz einfach, für uns Depressive eine Herausforderung- wenn nicht gar Überforderung.

Dennoch: Ich könnte mir ein Leben ohne unsere Tierlein überhaupt nicht mehr vorstellen.

Wir haben in unserm Aquarium noch genau drei Fische, zwei davon dürften ihre durchschnittliche Lebenserwartung wohl schon um das Doppelte überschritten haben. Ich weiß jetzt schon, dass sie mir fehlen werden.

Dadurch, dass wir drei Jahre Mitglieder eines inzwischen aufgelösten Wildtier-Nothilfe-Vereins waren, sind schon sehr viele kleine Wesen in meinen Händen gestorben. Vögel, Igel, Kaninchen, Eichhörnchen.
Jedes verursacht Traurigkeit, manche erheblichen Schmerz, manche schrecklichen Kummer.

Bei Haustieren, die jahrelang den Weg mit Dir teilen, geht´s gewaltig an die Substanz.

Aber nicht ein Einziges von allen will ich nicht gekannt und betreut haben. Sie haben mein Leben reich gemacht.

Lieben Gruß
Sintram

Sintram

Ich mag diese Träume nicht besonders. Andrerseits beunruhigen sie mich nicht.

In diesen Traumgesichten ist immer Nacht, tiefe schwarze Nacht.
Und da war er plötzlich, ganz selbstverständlich, mein Freund aus alten Tagen.
Dreißig Jahre sind vergangen seit er sich damals das Leben genommen hat.

Er sah genau so aus wie einst, und auch sein Wesen war das gleiche, umwölkt von seltsam düsterem Wissen, schweigsam, ruhig, freundlich unnahbar.
Auch letzte Nacht sprach er wenig, nichts was wichtig genug gewesen wäre, mir im Gedächtnis zu bleiben.

Ich stand auf der Straße vor einem schummrig beleuchteten niedrigen Gebäude, und er ging zielstrebig hinein und kam mit einer Gruppe von Leuten zurück, vier an der Zahl, vielleicht eine Hand voll, ich achtete nicht darauf, zu sehr war ich erstaunt ihn zu sehen, was unmöglich sein konnte, das wurde mir selbst im Traum bewusst.

Zu einem Karren wies er sie und sie kletterten stumm hinauf. Männer und Frauen. Ich kannte niemanden von ihnen. Sie setzten sich und flüsterten Unverständliches miteinander.

Dann gab er mir zu verstehen, dass er leider keine Zeit hätte und ich ihn nicht begleiten könne.
Das Ganze hatte nichts mir mir zu tun und ging mich nichts an, aber es schien sich um eine sehr ernste Angelegenheit zu handeln, die keinen Aufschub erlaubte.

Er selbst schwang sich auf den Kutschbock, und der Karren setzte sich ächzend in Bewegung und verschwand in der Nacht. Was ihn von dannen zog, konnte ich nicht sehen, es war stark und groß und in Finsternis gehüllt.

Ich erwachte verwundert aber ohne Schrecken.
Alles war so wirklich, so nah und räumlich, es war kalt, nur zwei Fenster warfen einen fahlen Schein auf die Szenerie, und es roch nach Nebel.
Er war so greifbar real und gleichzeitig unwirklich unerreichbar. So nah und doch so fern.

Ich mag diese Träume nicht besonders. Aber ich träume sie, immer wieder.




Sintram

Zum Volkstrauertag

Ich wusste bereits als Kind von den Schrecken des Krieges, aus den "lebendigen" Erzählungen meines Vaters, ausschließlich im Zustand der Trunkenheit dargeboten.
Ich weiß, wie Soldaten sterben, weiß, dass junge Männer nach ihrer Mutter schreien und ältere gellend um Erbarmen flehend ihre Sünden in den Himmel.
Weiß, dass reiche Burschen Haus und Hof, Hab und Gut dafür geben würden, wenn sie denn dafür weiterleben dürften, während ihnen die Gedärme aus dem Unterleib quellen.
Weiß dass die Stillen als Erste gehen.
Wusste es spätestens im Grundschulalter, wenn nicht schon früher.

Auch über die sonstigen Begleiterscheinungen eines Krieges wusste ich längst bescheid, lange bevor diese die Gemüter erregten und für beträchtlichen Aufruhr sorgten.
Ich lernte sie nicht erst mittels vergilbter Fotographien einer umstrittenen Wanderausstellung kennen, sondern erfuhr sie hautnah von einem unmittelbaren Augenzeugen, der sie mir mit pochenden Schläfen, fiebrigen Augen und zu Fäusten geballten Händen servierte, als wolle er sich seine Ballen mit den Nägeln zerfleischen.

Aber darüber will ich mich heute nicht weiter auslassen, weil das Sterben anderorten -etwa in Afghanistan- heute noch auf genau die selbe Weise geschieht, weil es den Sterbenden erstaunlich gleichgültig ist, ob nun die verbrecherische Ideologie von Wahnsinnigen oder cosmopolitische Weltordnungsfantasien für ihren Tod verantwortlich sind.

Ein Drama aber spielt sich in den Hightech-Kriegen der Gegenwart nicht mehr ab:
Das millionenfache Leiden, Sterben, Krepieren und Verrecken von Pferden.

Im Tross der Wehrmacht waren sowohl Zug- als auch Reitpferde eine Selbstverständlichkeit.
Nicht nur, dass sie von Granaten und Minen zerfetzt wurden, im Eiswind des russischen Winters zu Skulpturen erstarrten oder im glühenden Sommer qualvoll verdursteten und von Mückenschwärmen regelrecht zu Tode gestochen wurden,
auch die Tragödie, in den Frühlingswochen bauchtief im Morast des tauenden Bodens zu versinken, blieb ihnen nicht erspart.
Trotz stundenlanger Bemühungen und Schinderei gelang es nicht, die Feststeckenden und immer tiefer Versinkenden aus ihren Todesfallen zu befreien, bis sie schließlich erschossen werden mussten, und zwar zu unzähligen unüberschaubaren Massen und Scharen.

Wer schon einmal ein Pferd in Todesangst hat kämpfen sehen, der kennt Mimik und Mienenspiel, das es dabei entwickelt, wer nicht, kann es sich lebhaft vorstellen.
Mein Vater - als Bauernbub Rossknecht- jedenfalls hat es mir seinerzeit derart anschaulich beschrieben -auch ihre entsetzlich qualvollen Schreie vermochte er täuschend echt nachzuahmen- dass ich nicht besonders scharf darauf bin, es jemals wirklich sehen zu müssen.
.

Und weil jedes Jahr der Volkstrauertag zelebriert wird, möchte ich diesen mal den "gefallenen" Pferden widmen.
Erstens haben sie ein Gedenken verdient und zweitens tragen sie ja wirklich nicht die geringste Schuld an dem ganzen Schlam(m)assel, dem größten Irrsinn der Menschheitsgeschichte.

Ein Königreich für ein Pferd.





Sintram

Blackbird

Schwärzer noch als Nacht
sticht sie aus weißem Schnee
ihr gelber Schnabel wie ein Dorn
sturmzersaust die nackten Bäume
ein Eisesodem hat den Tod gebracht
das eherne Gesetz des Werde und Vergeh
schleicht an von hinten kommt von vorn
verschlingt des Lebens bunte Träume

Trauerschwer die hohe Tanne
der Himmel wirft sein fahles Winterlicht
auf das alltäglich graue Einerlei
einer geht der andere muss bleiben
flüchtig ist die kurze Lebensspanne
ein Wimpernschlag bis uns das Auge bricht
vom letzten Atemzug zum ersten Schrei
ist kaum die Zeit ein Buch zu schreiben

Ein fernes Wetterleuchten nur
der Lichtstreif dort am Horizont
Sehnsucht über schneeverwehten Tälern
gefrornen Tränen gleich der Flockentanz
verschluckt der Rehe feingezogne Spur
voll Düsternis droht dichte Wolkenfront
will jeden freigekehrten Weg verschmälern
bis seine zugeschneite Bahn verschwunden ganz

Von kalter Bö geschüttelt zittern Baum und Strauch
der Wind trägt wieder eine Seele mit sich fort
verweht des Buches Seiten wie verwelktes Laub
löscht Zeilen die das Leben niederschrieb
lässt Grabeslichter flackern die nach altem Brauch
bewachen der Verstorbnen letzten Heimatort
wo Asche will zu Asche Staub zu Staub
in Holz und Stein gemeißelt nur ein stummer Name blieb

Fotographien gleich vergilbt verblasst
Gesichter die aus längst versunknen Tagen
Vergangenheit bezeugen wider das Vergessen
schon Morgen wird die Zukunft ebendort gefangen sein
wer hat die Zeit erdacht wer hat sie je gefasst
und wem gelingt es sie zu hinterfragen
die eigne Lebensfrist kann keine noch so große Seele messen
den Tod zu fassen ist des Menschen Geist zu klein

07

Sintram

#12
Als meine Mutter vor sechs Jahren ihrem Krebs erlag, war sie eine alte Frau und ihr Tod von daher natürlich. Es war einfach Zeit, weil die ihre abgelaufen war.
Ich selbst befand mich an ihrem Sterbebett im Herzen der schwärzesten Depression und war dem Tod um so vieles näher als dem Leben, dass ich keine Mühe hatte, sie wie selbstverständlich bis zur letzten Schwelle zu begleiten, ja sogar ein Stückchen drüber.
Es war ein fast lockeres "Komm gut rüber und mach Dir keine Gedanken, das wird schon."

Zeitlebens war sie mir fremder als eine Fremde es je sein hätte können und ich ihr vermutlich noch viel mehr. Aber in diesen ihren letzten Stunden waren wir uns sehr nahe.

Ich ihr womöglich näher als ich es seinerzeit in ihrem Mutterleib gewesen bin.
Eine fremde Seele bleibt eine fremde Seele, auch wenn sie einen Körper bewohnt, durch dessen Heimstatt und Nahrung der eigene heranwächst.
Spätestens mit der Trennung der Nabelschnur war´s um die letzte Verbindung geschehen.

Warum dem so gewesen weiß ich trotz unzähliger Ergründungsversuche nicht zu sagen. Aber mir war es im Gegensatz zu ihr ziemlich egal und ich litt nicht darunter.
Deshalb gefällt mir Richie Havens "Motherless Child" (alias Freedom) von Woodstock annodazumal zwar musikalisch ausgezeichnet, aber so recht weiß ich nicht, wovon der Kerl da singt.

Als Kind empfand ich sie als verschlingend, besitzergreifend, hochgradig tyrranisch und unberechenbar, als Jugendlicher als verständnislos, neurotisch und lästig, ja überaus peinlich...
später dann erlebte ich sie als gebrochene verbitterte Frau ohne Hoffnung mit Ansätzen zu Altersgüte und konnte ihr damals schon alles vergeben.

Es interessierte mich einfach nicht mehr, was sie mir angetan hatte und an irreversiblen Schäden zugefügt, weil ich mich nie so recht für sie als Menschen interessiert hatte.
Die innere Verbindung fehlte, von Verbundenheit konnte schon gar keine Rede sein.

Ihr Tod hat diese nicht hergestellt, aber immerhin einen gelassenen und entspannten Umgang mit ihrer Person.
Ich werfe ihr nichts mehr vor und komme in der Erinnerung bestens mit ihr zurecht. Sie ist mir richtig lieb geworden.
Und das ist weitaus mehr als es mir zu ihren Lebzeiten je gelang.

Tja, ein etwas seltsamer Nachruf, aber wenigstens ein ehrlicher.

Sintram

Mein Freund Knut ist tot.

Hast mir viel Freude und Trost geschenkt damals.
Nun hat Dich Dein Ersatzpapa zu sich geholt.
Ihr seid wohl unzertrennlich, wird schon passen so.

Trotzdem bin ich traurig.