Kleine Geschichten...

Begonnen von Hobo, 29 November 2011, 10:17:26

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Hobo

Schon früh, ich glaube so ab 12 veränderte sich einiges. Nicht mehr jedes der Ereignisse kann ich genau einem Jahr zuordnen, in der Rückschau sind die Übergänge wohl auch fließend. So fließend, wie sich "unsere" Musik langsam aber sicher politisierte...

Cold War Kids III

So gut gemeint die Bemühungen meiner Eltern waren, mich mit Sport- und Klavierstunden von der großen Welt abzulenken, so sinnlos war es auch. Es muss 1966 gewesen sein, da hörte ich zum ersten Mal einen seltsamen Menschen, der ohne Band, nur mit einer Gitarre auf eine Bühne kam und mit einer unglaublich schlechten Stimme unglaubliche Texte sang. Stundenlang hab ich über seinen Texten mit meinen damals noch dünnen Englischkenntnissen gesessen und versucht zu verstehen was der da singt. Es war die Zeit, als die sogenannten Protestlieder auch bei uns bekannt wurden. Die erste LP, die ich mir je gekauft habe hieß "The Times they are a-changing". Der junge Mann hieß Bob Dylan.

Es gab ja noch kein Internet, im Fernsehen war der auch nie zu sehen, so hatten wir nur wieder die "Bravo" als Informationsquelle. Dort  las ich auch zum erstenmal von Pete Seeger und Woody Guthrie. Diese drei haben meinen Musikgeschmack bis heute stark geprägt. Aber nicht nur den. Wer Musik von ihnen hört, der erfährt natürlich auch viel über den Vietnamkrieg und auch über die Rassenunruhen in Amerika, besonders zwischen 1966 und 68. Was das Wort "Bürgerrechtsbewegung" bedeutet und wer Martin Luther King ist. Ich war, natürlich in der Spur meines großen Bruders sehr früh dran, aber im Rahmen meiner "kleinen" Möglichkeiten habe ich mich schon damals als Teil der Protestbewegung verstanden.

Nicht nur mir ging das so, es wurde eine erstaunlich große Bewegung. Es gab Demonstrationen und oft eskalierten diese. Es gab regelrechte Studentenaufstände weiltweit und teilweise schlossen sich Arbeiterbewegungen an und die Regierungen gerieten in Not. Bei einer Demonstration gegen den  Schah gab es den ersten Toten. Benno Ohnesorg. In Amerika wurde dann Martin Luther King ermordet.

Selbst im "Ostblock" kam diese Bewegung an, ich kann mich noch sehr gut an den Prager Frühling erinnern und auch an die Niederschlagung durch sowjetische Panzer. Wieder einmal rannte die Bundeswehr an die Grenzen. Alle hatten Angst, dass die Russen an der Grenze nicht halt machen und einfach weiter marschieren würden. Quasi alles in einem Aufwasch...

Wieder gab es Drohungen mit "der Bombe" und wieder wurden die Keller befüllt. Aber zum ersten Mal waren Menschen auf den Straßen und haben dagegen protestiert. Sowohl gegen die Russen, als auch gegen den Vietnamkrieg, eigentlich grundsätzlich gegen Krieg jeder Art. Die Friedensbewegung war geboren. Ich selbst war zum ersten Mal 1968 auf der Straße. Zwar erst 14 Jahre alt, aber trotzdem überzeugt und mit allen Erfahrungen eines Cold War Kids. Und das waren einige und tiefe.

Eine wüste Zeit war es. Aber zum ersten Mal ist den Regierenden wohl damals gezeigt worden, dass sich das "Wahlvieh" nicht mehr alles bieten lässt. Selbst im damals noch total verkrusteten Deutschland, mit seinen nazidurchdrungenen Eliten.

Und erstaunlicherweise waren es oft kleine Dinge, die die Veränderungen deutlich machten. Nicht zuletzt auch meine Haare, die 1968 locker bis an die Schulterblätter reichten. So wie bei allen anderen... Die Keimzellen waren die Familien, die verzweifelten Eltern, die ihre Brut nicht mehr autoritär im Griff halten konnten. Wurde die doch tatsächlich aufmüpfig...

Tatsächlich habe ich während des Schreibens dieser kleinen Geschichte einige Male Grinsen müssen. Bilder sind aufgestiegen und Gesichter haben Konturen angenommen, Gesichter, die ich längst vergessen hatte. Ganze Schulklassen, die ohne Ausnahme spontane Demonstrationen veranstalteten oder Sit-ins. Es war eine erstaunliche Zeit...

lg
Hobo, Cold War Kid


Hobo

#31
Nachtrag...

Wahrscheinlich hält der Link nur ein paar Tage, deshalb jetzt  reinhören.

Bob Dylan - It´s all over now, baby blue

http://youtu.be/aThPbHhvDIc

und

It´s alright ma (I´m only bleeding)

http://youtu.be/hMARixzu6O0

Nur das ihr Kiddies auch wisst, welche Musik ich gemeint habe...

lg
Hobo, it´s alright, I´m only bleeding...

ps

http://youtu.be/mmdPQp6Jcdk

Sintram

#32
Es kam über Nacht und aus dem Nichts, plötzlich war es da, lag in der Luft, war überall zu spüren und greifen, ergriff die Leute und riss sie mit sich fort, mit einem Mal schien alles möglich, die Vision war gewaltig, das Gefühl der Zusammengehörigkeit unbesiegbar, der Feind übermächtig, aber seine Tage gezählt.
Dieser geradezu kosmische, Länder und Kulturen übergreifende Aufbruch und Ausbruch im wahrsten Sinne des Wortes hat die Welt nachhaltig verändert, nicht allein unsere Gesellschaft wurde regelrecht umgekrempelt.

Wie nachfolgende Generationen damit umgegangen sind, steht wieder auf einem andern Blatt, aber diese Zeit erlebt zu haben, als Kind oder Jugendlicher, ist eine unschätzbar wertvolle Sache, eine Prägung wie ein Brandzeichen, die niemand je verstehen und begreifen wird können, der diese ,,Revolution" nicht erlebt hat.
Dafür bin ich dankbar.

Tolle Erinnerungen, Hobo!



Hobo

Oh ja, Sintram. Noch heute bin ich in meinem Denken und Verhalten noch sehr stark von dieser Zeit beeinflusst und das ist auch gut so. Sehr gut kann ich mich an das Jahr 1969 erinnern. Na ja, immerhin an einiges.

Ich war ja damals schon 15 Jahre alt und mit 1,90 m schon bei meiner heutigen Körpergröße angekommen. Auch der Stimmbruch lag hinter mir und ich ging locker für 18 durch. Einige Dinge hatten sich deutlich verändert. Unter anderem das Misstrauen gegenüber dem anderen Geschlecht. Das hatte sich aus irgendwelchen Gründen genau ins Gegenteil verkehrt. Nicht ganz zufällig saß ich in diesem Schuljahr neben einem Mädchen und habe auch nicht ganz zufällig immer mal ein Buch vergessen, was dazu führte, dass wir in einem Buch zusammen lesen mussten. Also etwas zusammen rücken und auch nicht ganz zufällig Kniekontakt haben mussten. Ja, es war die Zeit der roten Ohren, die sich immer in der Nähe meiner Schulnachbarin einstellten...

Aber es war auch die Zeit des Friedensmarsches nach Washington, 250.000 Menschen gegen den Vietnamkrieg. Was hätte ich gegeben dabei sein zu können. Noch mehr hätte ich gegeben, auf einer Wiese vor einer riesigen Tribüne zu stehen. Auf der Wiese in Woodstock. Damals gab es natürlich schon die tollen Radiosender und wir konnten zumindest mithören. Dann der Film später und die Schallplatte. Klar, hab ich gekauft und den Film hab ich bestimmt drei mal gesehen.

Und irgendwann 1969 saßen wir alle vor dem Fernseher und schauten zu, wie der erste Mensch seine Spuren auf dem Mond hinterließ. Und eine andere Sache, die kann ich auch noch erinnern. Jack Kerouac starb im Alter von nur 47 Jahren. Das war keine große Meldung damals. Aber ich kannte ihn. Ich hatte sein Buch "On the Road" gelesen, damals noch in der deutschen Übersetzung, es hieß bei uns "Unterwegs". Neben einem ganz speziellen Lebensgefühls ging es darin unter anderem um Hobos. Anscheinend hat es einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen...

lg
Hobo

Sintram

#34
Hi Hobo, ach da hast Du Deinen Namen her. :-)

Vor –was weiß ich, sagen wir mal-  fünfzehn Jahren hat mich mal ein Youngster auf Woodstock angesprochen, hab ihm spontan geantwortet, ,,ich war dabei".
,,Das hat noch keiner gesagt", meinte er verblüfft, da versuchte ich ihm zu erklären, was für eine prägende und wegweisende Rolle das Festival gespielt hat damals, das weitaus mehr war als ein Open Air, nämlich das Manifest neuen Lebensgefühls geschaffener (Jugend)Kultur und last not least einer mächtigen Friedensbewegung.

Der Schlachtruf ,,Fuck" -von Country Joe McDonald intoniert- etwa bringt mich heute noch immer wieder mal in Verlegenheit, wenn ich die deutsche Übersetzungen ,,bekackt" anwende, um meinem Zorn Nachdruck zu verleihen, weil niemand mehr weiß, dass seinerzeit F-U-C-K nichts zotig Unanständiges, sondern etwas sehr brisant Politisches bedeutete. Ebenso Jimis "Star Spangled Banner".

Sicher ist so Einiges des damals ,,Entdeckten" in eine falsche Richtung weitergelaufen, Jerry Rubins fantastischem Kultbuch "Do it!" zB. folgte ein übles Machwerk, es brauchte wohl Jahrzehnte, um das Gold auszusieben, das sich den ganzen nostalgisch geringschätzig oberflächlich kommerziellen ,,Aufarbeitungen" zum Trotz als kostbarer Schatz herausstellt, den zu verteilen ich keine Scheu habe. Carry On, Love is comin´...

Peace & Happiness
Sintram


Hobo

Oh ja, give me an F, give me a U, give me a C, give me a K. What´s that spelled? FUCK...

Und klar, es war der Ausdruck des Gefühls das wir hatten und was wir von "denen" da oben gehalten haben. Und auch klar, es hielt nicht lange. Es gab eine gewissen Liberalisierung, die Gesellschaft wurde offener. Aber ok, das war ja schon verdammt viel. Anders wäre es nie soweit gekommen. Der Muff unter den Talaren wurde heftigst verwirbelt, Sexualität wurde nicht mehr verheimlicht oder verheuchelt, freie Meinungen waren plötzlich Thema der großen Politik. Ja, es war ein Fortschritt. Spätere Generationen sind leider auf den Trick der Industrie hereingefallen, dass man Lebensgefühl mit Kleidung, Schminke oder anderen für uns damals unwichtigen Dingen ausdrücken könnte. Die Generation nach uns hat eine Innenschau gehalten. Nur sich selbst gesehen. Das "Ich" regierte deutlich über dem "Wir". Aber da war ich schon zu alt. Hatte keine Lust mehr mich einzumischen, schon müde.

Sie haben unsere Musik, handgemacht, mit richtigen Instrumenten, richtigem, echtem Gesang, vernichtet. Playbacks und Tonmischer machten aus totalen Nulpen Stars. Sie brauchten nur die "Looks". Na ja, wohl eher große Titten und gute Kosmetik. Und ja, ich habe es gehasst. Ich habe mich persönlich verraten gefühlt. Ich habe mir auf den Kopf schlagen lassen von einem Polizisten mit dem Schlagstock und musste mit auf die Wache. Es tut weh, dass die Nachgekommenen auf die Geld- und Scheinschiene abgefallen sind.

Trotz allem weiß ich, dass auch diese seltsamen Auswüchse der Freiheit sein "Ding" zu machen, niemals ohne die damalige Bewegung möglich gewesen wäre. Und nebenbei, ich bin Germanist und habe Theater- und Literaturwissenschaft lange studiert. Sag mir doch bitte jemand, was noch lesenswert ist nach 1973. Das war das Ende der 68er Literatur und Kultur. Was kam danach? Welcher Schriftsteller hat in den 2000er Jahren furore gemacht? Und womit? Hm, keiner so richtig...

Anything goes ist liberal und auch ok. Aber selbst Thomas Bernhard konnte da keinen Kontrapunkt setzen. Britney Spears und Paris Hilton haben gewonnen. Und wir? Wir haben es möglich gemacht. Wir haben den Weg in alle Richtungen geöffnet. Auch in diese...

Und es war richtig. Die Erde dreht sich weiter. Niemand mehr denkt an diese alte Zeiten, die ich oben beschrieben habe zurück. Die wenigsten kennen sie überhaupt und den meisten ist das scheißegal. Schlimmer ist ein Serverausfall oder ein kaputtes Smartphone. Wir werden sehen. Ich glaube an die Pendeltheorie. Es pendelt immer mal zur einen Seite und dann wieder zur anderen. Wir waren auf der Revolutzerseite und dann ist es auf die Konsumseite gependelt. Haargeel für Männerund Brustoperationen für Frauen. Schamhaarrasur und Wellness mit Gurkenpackungen. Ist ok. Ich wette, es pendelt zurück, erste Anzeichen sind zu erkennen.

Piraten tauchen aus dem Meer auf, an der Wallstreet zelten Menschen, die gegen den Finanzmarkt demonstrieren. Erste verhaltene Versuche gibt es bei uns und auch weltweit. 2012 wird insofern ein interessantes Jahr. Fällt der Euro, dann werden wir wieder die Straßen belebt von bunten Demonstranten sehen. Nur sind viele heute gewaltbereit. Was ich verurteile. Aber ja, auch ich werde dann noch einmal. ein letztes mal den alten Parka rauskramen und mitlaufen. Einmal 68er immer 68er.

Und all das nur wegen einem lauten "FUCK". Such is Life.

lg
Hobo

Sintram

Alles im Lot, Hobo?

Heiser geworden vom lauten Schreien? ;-)
Vier Tage Funkstille erscheinen mir lang, brauchst Du eine notwendige Ruhepause in der Unterblätterhaufenhöhle?
Wann geht´s hier weiter?

Ein etwas besorgter
Sintram

Hobo

#37
Und da war auch noch die andere Geschichte. Der kleine junge wurde immer größer. Mit 15 jahren war er ausgewachsen, ich darf das schreibe, weil ich von mir selbst rede. Er ist dann vom Schwimmen zu den Wasserballern gekommen. 2  Jahre harte Training und Spiele in der Jugendliga. Oh ja, noch heute gibt es Narben aus dieser Zeit. Wasserball ist ein schwieriger Sport. Die Spieler müssen sehr gute Schwimmer sein und gleichzeitig Virtuosen mit dem Ball, den man nur mit einer Hand berühren darf.

Das alles zusammen genommen, vielleicht noch starken Körperkontakt, führt in den frühen Jahren zu Zahnersatz und vielen Einsätzen von Nähern. Also Ärzten, die diese Cuts auf den Augenbrauen oder auch an anderen Stellen im Gesicht wieder zusammen genäht haben. Das war  meine Welt für ein lange Weile. Noch heute trägt mein Gesicht die Narben der alten Zeit.

Dann hat ein Genie bemerkt, dass ich der Längste war. Klar, das hieß Torwart. Ok, hab ich gemacht und klar, auch heute noch kann man nachmessen, dass meine Armlänge im Verhältnis zur Körpergröße extrem ist. Ja, wir wurden Jugendmeister. Dann sind wir hochgerückt und waren die jüngsten Meister der ersten  regionalen Liga.

Dann wurden wir Süddeutscher Meister und im gleichen Jahr, wohl 1971 Deutscher Meister. Wow, was ein Ding. 10 Jungs, alle aus der gleichen Stadt, alles Kumpels drehen so ein Ding. Jou, wir waren stolz. Aber mehr auch nicht. Wasserball war damals und ist heute immer noch eine Randsportart. Wir hatten das in unserer Freizeit gemacht. Immerhin 4 Mal die Woche. Jeweils 2 Stunden. Und ja, wir waren gut, jeder einzelne von uns und wir waren eine Mannschaft, in einem anderen Sinn, wie man heute Mannschaften im Fussball oder jeder anderen Sportart kennt. Es war alles anders, sehr anders. Es gab meinen Nachnahmen 3 Mal im Team, 2 Cousins und ich. 2 mal 2 Brüder, das waren schon mal 7 Spieler mir 3 Namen. Und das waren die besten 7. Verrückte Zeiten, wir haben alles zusammen gemacht. Wir sind nur als Mannschaft aufgetreten, egal wo. Und wenn etwas dumm gelaufen ist, auch mal abends, wo auch immer, wir mussten nur aufstehen, wir waren bekannt. Das war sehr lustig. Manchmal kam eine Wirtin zu uns und bat uns jemanden hinaus zu bitten. Wir haben dann Schnick, Schack, Schuck gespielt und nur 2 sind hin und haben das gewaltfrei geregelt.

Dann kam der Bundestrainer in unsere kleine Stadt. Wir hatten ein Probetraining und danach, ja, da wurde alles anders. Aber das ist eine andere kleine Geschichte.

lg
Hobo

Hobo

Der damalige Bundestrainer der Wasserballjugend war ein Ungar. Mir war gar nicht klar, was der bei uns wollte und es war mir auch vollkommen egal. Er hat uns gejagt, immer wieder Spurts und Drehungen und Wendungen im Wasser, immer mit Volldampf. Dann Schusstraining. Ich sehe es noch deutlich vor mir. Erst von 8 Metern, dann von 6 Metern und dann sind sie mir fast ins Tor reingeschwommen, Schüsse aus 3 oder 4 Metern. Aber mir machte das nicht viel. In wirklichen Spielen in der Bundeslige, in der ich ja damals schon spielte war das nicht anders. Man hat halt versucht den verdammten Ball zu erwischen. Und ich hatte eben diese Voraussetzungen. Krakenarme und ein sehr gutes Auge.

Nach zwei Stunden musste ich dann hinschwimmen zu dem Trainer. Miklos Sarkan hieß der, den Namen werde ich nie vergessen. Er sagte ich solle die Arme nach oben strecken und dann so fest Wasser treten wie ich kann. Gut, hab ich gemacht. Dann hat er genickt und mich zum Duschen geschickt. Ich weiß noch, dass ich dachte, was ist denn das für ein komischer Vogel. Gut ich war gerade mal 15 oder 16 und für mich war Wasserball spielen halt mein Ding und es hat mir Spass gemacht.

Nach dem Training, ich kam gerade aus der Umkleide, da standen sie. Mein Trainer, der ja auch Spieler war in der Bundesliga, der Vereinspräsident, noch so ein paar Hanseln und der Bundestrainer. Ich hatte es eilig, mein Vater wollte mich abholen vom Schwimmbad. War ja auch schon 22 Uhr. Dann sagte mir dieser komische Ungar, ich wäre ab jetzt sein Torwart. Erst hab ich das falsch verstanden und wohl geantwortet, aber nein, ich bin der Torwart meines Vereins...

Alle haben natürlich gelacht. Und dann wurde auch mir klar, was er meinte. Ich war Nationaltorwart geworden. In gerade mal 120 Minuten. Von da an hat sich vieles in meinem Leben verändert. Aber das ist wieder eine neue kleine Geschichte...

lg
Hobo

Epines

Oh wow Hobo!
Da freue ich mich schon wie die Geschichte weiter geht :-)

LG
Epines

Hobo

Lach, Epines. Eigentlich wollte ich morgen weiter schreiben, aber ich kann Deine Neugierde ja quasi fühlen. Also dann schon etwas früher.

Ich habe ernsthaft noch mal nachgeschaut. Der Besuch des Bundestrainers war 1969. Ich war noch nicht mal ganz 15 Jahre alt.  Aber das ist nicht wirklich wichtig. Wo war ich? Ach so, ja plötzlich war ich Nationalspieler. So richtig wichtig war mir das erstmal nicht. Ja, naiv war ich. Keine zwei Wochen später kam die Einladung. Trainingslehrgang im Bundesleistungszentrum. Das war Berlin. Ich war vorher noch nie geflogen, aber nach Berlin konnte ich nur per Flug von Frankfurt aus kommen. Mein Mentor, für Jugenspieler gab es sowas, der hat das mit meinen Eltern besprochen, hat mein Ticket gebucht und mich zum Flughafen gebracht. Und los gings...

Wenn ich heute daran zurück denke, dann muss ich sagen, ich war entweder zu dumm oder einfach vollkommen angstfrei. Ich hab mir nichts gedacht. Nicht der Flug, fliegen wurde für mich recht schnell zu einer Selbstverständlichkeit. Nein, ich kam aus einer Kleinstadt, war noch nie so richtig irgendwo. Außer halt bei unseren Ligaspielen. Und dann immer Stundenlang im VW-Bus mit der berauschenden Geschwindigkeit von 110 km pro Stunde. Na ja, so war das halt damals. Und es war toll, wir haben Karten gespielt. Mau mau oder Skat, je nachdem, wer mitspielen wollte. Jeder kann recht einfach ausrechnen, wie lange es mit so einem Komfortfahrzeug damals gedauert hat mal eben 600 km quer durch die Republick zu fahren. Ja, stimmt. Lange.

Und plötzlich wurde ich beschleunigt und zwar erheblich. Von Frankfurt durfte damals nur die PanAm nach Berlin fliegen. Beim ersten Mal war mir schon recht komisch. Angst hatte ich nicht. Ich glaube 15jährige Wasserballer hatten damals vor nichts und niemandem Angst. Neugierig war ich schon. Ich musste lernen, dass man eine Platznummer hat. Und dass jede Sitzreihe nach Buchstaben geglieder ist. Also Reihe 12, Sitz C. Oder so. Und ich lernte, dass diese Flieger recht schnell starten. Beim ersten Flug hatte ich Glück, das war schon ein Jet. Eine Superconstellation. Klar, kennt natürlich keine Sau mehr. Sind auch längst ausgemustert die Dinger. Sie waren laut, ruppig und eng.

Als wir oben waren, da kam dann die Stewardess und fragte mich, ob ich was trinken möchte. Etwas verunsichert hab ich frech gefragt, was sie denn anbieten könnte. Aber da hatte mein Nachbar schon einen Martini bestellt und ich habe blitzschnell gesagt, ja, für mich auch. Normalerweise hätte sich der Flugzeugboden öffnen und mich direkt ausspucken müssen. Ich durfte keinen Alkohol trinken, schon gar nicht sowas. Es war auch nur so ein kleines Fläschchen und ein Plastikbecher. Immerhin war Eis drinne. Dann gab es als Essen verkleidetet Pappe und direkt später waren wir im Landeanflug.

Damals war das noch alles ganz anders. Es war Tempelhof. Wir sind eingeflogen, gefühlte drei Meter an den Wohnzimmer der Menschen dort vorbei. Man konnte sie beim Abendessen sehen. Dann die Landung und von wegen Schleuse... Nix war, hinten ging die Tür auf und wir sind brav rausmarschiert, eine seltsame Treppe runter und dann Richtung Tempelhofgebäude. Dort ging es dann eine durchsichtige Metalltreppe hoch und dann stand ich im Weltflughafen Tempelhof. Für mich war das überwältigend. Aber heute, mit etwas Abstand und etwas mehr Realität muss ich schon eingestehen, dass die Halle nicht allzu groß war. Und trotzdem wurde sie so etwas wie mein Wohnzimmer. In 1969 bin ich da ca. 80 mal gewesen. Also 40 mal gelandet und 40 mal abgeflogen.

Recht schnell wurde das für mich zur Routine und ich habe mich wie ein echter Jetsetter gefühlt. Na ja, letztendlich war ich es ja auch.

Aber eins nach dem anderen. Es geht ja immer noch um meinen ersten Flug. Und dann das erste Training, ohne meine Mannschaft, mit Spielern aus allen Teilen der Republik, handverlesen und die Besten von allen.

Aber das ist schon wieder eine andere kleine Geschichte.

lg
Hobo

Hobo

In der Rückschau ist es geradezu skurril. Nichts hat mich wirklich beunruhigt, nicht der Flug oder alleine am Flughafen zu stehen und keine Ahnung zu haben, wie man wohl zur Schöneberger Schwimmhalle kommt. Das war alles zu schaffen. Und dann kam ich dort an und den einzigen, den ich da kannte war dieser schrullige Ungar, der Bundestrainer.

Genau dann wurde ich doch nervös. Es sind diese Absurditäten, die einen im Nachhinein lächeln lassen. Der Flug, diese neue Welt, das war alles nicht so mein Ding. Das wurde zwar später anders, aber an diesem Tag nicht. Und ausgerechnet das, was ich im Schlaf beherrschte, nämlich Wasserball zu spielen, das bereitete mir plötzlich Sorgen. Aber auch das legte sich wieder. Sie brachten mich in ein angrenzendes Gebäude, das war ausgestattet wie ein Hotel. Und das war es auch, ein Sporthotel. Aber richtig locker wurde ich erst, als ich in den Besprechungsraum kam. Ich wußte ja nicht, wer da alles war. Und als Neuling kommt man sich da schon blöd vor.

Aber es war fast ein Familientreffen dann. Ich kannte sie alle, es waren Spieler der 10 besten Jugendmannschaften und wir hatten schon etliche Male gegeneinander gespielt. Die meisten hatten den Vorteil, dass sie zu zweit aus einem Team waren. Nur ich war der einzige meiner Mannschaft. Aber es fand sich noch einer, ein lustiger Typ aus Ludwigsburg und wir haben dann ein Zimmer bezogen.

Und dann die erste Trainingseinheit. Er hat uns 1.500 Meter auf Zeit schwimmen lassen. Das werde ich diesem kauzigen Ungarn nie vergessen. Ich wäre fast ertrunken. Aber natürlich ist man dann so ehrgeizig und lässt nicht abreißen. Immer dran bleiben. Dann alle raus aus dem Wasser und rauf auf das Ergometer. Sie haben die Sauerstoffsättigung gemessen. Das war das absolut Neueste in der Sportmedizin. Ich hatte sowas noch nicht gesehen. In meiner Kleinstadt gabs das alles nicht. Zwei mussten dann nach Hause fahren mit der Auflage sich zu Fachärzten zu begeben und auf Herzschwächen untersuchen zu lassen. Erstaunlich, dass es diese Kleinigkeiten sind, die man am Besten erinnern kann.

Aber auch das wurde mit der Zeit zur Routine und wir traffen uns dann fast jedes Wochenende in Berlin. Es wurde fast zur Gewohnheit. Natürlich haben immer alle Dinge zwei Seiten. So auch diese.

Aber das ist wieder eine andere kleine Geschichte...

lg
Hobo

Hobo

Das ging eine ganze Weile so weiter. Mit 16 war ich dann schon in der Jugend- und Juniorennationalmannschaft. Mit 17 hatte ich meine ersten Einsätze in der Männermannschaft. Trainiert habe ich mit allen drei. Und natürlich mit meiner Bundesligamannschaft zu Hause. Das hat sich natürlich aufaddiert.

Die andere Seite, die ich gemeint habe ist natürlich die im Vergleich zu anderen Teenagern. Gut, ich hatte Schule und Sport. Sport extrem und bis zu 6 Stunden täglich. Andere haben Dinge gemacht, die eben "normale" Teenies so tun. Es viel mir erst gar nicht auf. Ich war es gewohnt in Budapest ein Jugendturnier zu spielen und von dort direkt nach Barcelona zu fliegen um bei den Junioren weiter zu machen. Oder irgendwo anders auf der Welt. Ich habe dabei wohl den Kontakt mit meinen Gleichaltrigen verloren. Und natürlich auch mit ihrer Art zu leben.

Heute weiß ich, dass dieses Alter eine nicht unwesentlich Sozialisierungsphase für junge Menschen ist. Und dass ich sie verpasst habe. Wenn auch dafür eine andere erlebt habe. Aber die wäre eher für ältere richtig gewesen. Ich hatte halt keine Zeit für Mädchen, tanzen zu gehen oder sich mal mit Kumpels zu treffen. War ja immer auf meinem Koffer gehockt und bin irgendwohin geflogen.

Ja, diese andere Seite hatte ich nicht erkannt. Wie auch in diesem Alter? Heute ist mir klar, dass mir da ein paar wichtige Jahre verloren gegangen sind. Andererseits war ich fast überall auf der Welt. Auf jedem Kontinent und in jedem Meer bin ich geschwommen. Selbst im Toten Meer.

Aber der Sport vergeht, die anderen Erinnerungen an seine Jugend wohl nicht. Da habe ich eine Lücke...

lg
Hobo

Epines

Eine interessante und spannende Geschichte. Seltsam, dass man erst im Alter darüber nachdenkt was man wohl alles verloren, oder eben nie gehabt hat, geht mir ähnlich.

LG
Epines

Sintram

Was mir besonders auffällt, Hobo, ist die Zuneigung und das Verständnis, die Du für Deinen jugendlichen Helden, also Dich, empfindest. Du kannst ihn offenbar gut leiden.
Das ist beneidenswert. Weit mehr als die große weite Welt und das tote Meer.
Außerdem, eine besondere und etwas andere Jugend muss noch lange keine verlorene sein, viele daheimgebliebene Jugendliche würden Dich darum beneiden.
Deine Erinnerungen jedenfalls klingen sehr versöhnt und aufgeräumt- und sind schön zu lesen.

LG
Sintram