Die Reise durch das schwarze Loch

Begonnen von Sintram, 05 Juni 2010, 15:26:01

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Sintram

Alle Qual will Ewigkeit

Der Zusammenbruch im Verlauf einer schweren Depression ist nur die Spitze eines Eisbergs. Die mächtige Masse lauert unter dem Meeresspiegel. Kollidiert das Schiff, ist nur ein leichtes Beben zu spüren. Ein Nichts im Vergleich zur Katastrophe, die folgt. Das Lebensschiff beginnt zu sinken, unaufhaltsam und unweigerlich.

Vom Schicksal gebeutelt zu werden ist die eine Sache, vom Leben betrogen die andere. Beides zusammen ist zuviel für die menschliche Natur. Sie verliert ihren Glauben an das Gute.

So war ich bereits bei der Ankunft in der Wohnung meines Bruders fest davon überzeugt, dass meine geliebte Frau lediglich aus Mitleid und Verantwortungsgefühl heraus zu mir geeilt war, um das Schlimmste zu verhindern. Wahrscheinlich wollte sie nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen, da ja mein Zustand offenbar auf ihren Trennungsentschluss zurückzuführen war. Ich ließ das zwar so nicht gelten, da ich lediglich in die Tat umsetzen wollte, was ich lange vor ihrem Auftauchen in meinem Leben beschlossen hatte.

Wie dem auch sei, es war mir gelungen, sie für eine letzte gemeinsame Nacht vor meiner Einlieferung zu gewinnen. Lange und eindringlich musste ich sie darum bitten, und erst, nachdem ich mich telefonisch im Bezirkskrankenhaus für den nächsten Morgen angemeldet hatte, hatte ich ihre Bedingungen erfüllt.

Angst und Grauen überfielen mich am nächsten Morgen. Bei der Ankunft im Gelände der Psychiatrie versank ich in totaler innerer Isolation. Das Aufnahmepersonal redete in einer fremden unverständlichen Sprache, außerdem fühlte ich mich nicht angesprochen, ich war ja gar nicht anwesend. Sie waren Akteure eines Films, den ich mir gerade anschaute, weiter nichts.

Nur meine geliebte Frau konnte zu mir durchdringen. Immer wieder bat sie mich, ihr in die Augen zu sehen, und sprach ruhig und liebevoll zu mir, und ich verstand jedes Wort und befolgte ihre Anweisungen wie selbstverständlich. Sie war quasi meine Dolmetscherin, denn nur sie kannte den Ort, an dem ich mich grade befand, und nur ihr gewährte ich Einlass.

Als ich vom Aufnahmegespräch mit der Ärztin zurückkam, dessen Inhalt mir vollständig entfallen ist, fand ich meine geliebte Frau in Tränen aufgelöst. Ich tröstete sie, war betroffen, und bat sie eindringlich, heimzufahren, da ich ja nun in Sicherheit und gut aufgehoben sei. Sie war am Ende ihrer Kraft und hatte alles Nötige gemeistert. Mehr gab es nicht zu tun.

Winkend blickte ich ihr nach, registrierte Trauer und Schmerz in ihrem Gesicht, und trottete gleichmütig hinter oder besser zwischen zwei freundlichen Pflegern Richtung Geschlossene.

Zwei Patienten begrüßten mich geradezu herzlich, ich sank auf die erstbeste Bank und sank und sank. Ein jugendlicher Pfleger fragte mich, ob ich denn Tavor wolle, ja bitte, endlich, antworte ich und werde von einem kurzen aber heftigen Weinkrampf geschüttelt. Ich bin angekommen, ergebe mich in mein Schicksal und lasse geschehen. Kurz darauf zergeht die Tablette unter meiner Zunge. Die erlösende Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Ich tauche ab.

Als ich aus unruhigem Schlaf hochfahre, blicke ich in wachsame Gesichter hinter hell erleuchteter Scheibe, die mich aufmerksam studieren. Wie durch ein Cockpit mustern sie mich, der ich in zerwühlten Laken auf einem Notbett im Flur liege. Über mir strahlen drei grelle Leuchter von der Decke, direkt auf mich gerichtet. Gut bewacht. Nun, immerhin werde ich hier drin ernst genommen. Das beruhigt.

Die folgenden Tage bestanden aus zusammenhanglosen Fragmenten unwirklicher Abläufe.
Stoische Nahrungsaufnahme im Speiseraum, schweigsame Rauchpausen im schmucklosen, randvoll mit meist besetzten Stühlen gefüllten Qualmerzimmer, einige abgehobene Gespräche mit einer lächelnden Ärztin, und nicht zuletzt besorgte Anrufe meiner geliebten Frau waren in Reihenfolge und zeitlichem Abstand in keinerlei Ordnung zu bringen.
Ich schlief sehr viel, eigentlich fast immer, und wusste beim Aufwachen weder um Tag noch Stunde.
Widerspruchslos schluckte ich meine Tabletten, die in Farbe und Größe variierten und meinen Handteller füllten. Sie quollen mir förmlich aus den Ohren.

Alles um mich her war mir vollkommen gleichgültig, etwa die Frau im Bett über mir am Kopfende, die regelmäßig laut und schrill zu schimpfen anfing, sie sei mit falschen Tabletten behandelt worden und wolle ihren Psychiater sprechen, das sei Freiheitsberaubung, sie sei völlig gesund und so fort.
Oder die andere, die ununterbrochen den Gang auf und abschlürfte und laut vor sich hinbetete, jedenfalls endete jeder ihrer konfusen und wirren Satzfetzen mit einem hastigen Herr. Jesus war nicht zu beneiden hier drin, aber offenbar gegenwärtig, zumindest wenn man von dem laut durchs Speisezimmer gebellten Tischgebet des überdrehten Rastafariers ausging.
Ein anderer Bursche wiederum, ein Riese an Gestalt, fragte ständig und hundertmal am Tag den nächstbesten Pfleger, ob ihn sein Vater nun entmündigt hätte und lebenslänglich eingewiesen oder nicht, dass er geliefert sei und dergleichen.
In einem der Zimmer schrie eine Frau immer wieder mal gellend und anhaltend, gleich kam ein Tross Pfleger gelaufen, das Rollkommando hetzte an meinem Bett vorbei.

Der durchgeknallte Typ mit den Rastalocken erklärte mir begeistert, dass das hier drinnen eine große Familie sei und alles allen gehöre, und stellte mir großzügig sein Waschbecken samt Dusche zur Verfügung. Mein Rasierzeug war zur Sicherheitsverwahrung weggesperrt, ich musste es mir bei der Schwester abholen und irgend einen Wisch unterschreiben, mir nichts damit anzutun.
Aus dem Spiegel blickte mir ein Gespenst mit Glasaugen entgegen, seine verschwommenen Gesichtszüge hatten aber nichts furchterregendes an sich. Ab und zu schnorrte mich irgendwer um eine Zigarette an.

Im Raucherzimmer saß ich schweigsam und verschlossen, paffte vor mich hin und lauschte den Gesprächen, deren Sinn sich mir allerdings entzog, und ich wusste nicht, ob es an meiner Auffassungsfähigkeit oder deren Inhalt lag. Warum aber ausgerechnet Straubing, ein Nest in Niederbayern, von der Landkarte vertilgt worden sein sollte, ohne dass wir etwas davon wüssten, weil eine allgemeine Nachrichtensperre über das ganze Land verhängt worden sei, war mir dann doch etwas schleierhaft.

Ansonsten redeten viele über die Art von Tabletten, die sie einwarfen, deren Menge und Wirkung, wobei selbstredend keine einzige zu helfen schien. Die Pharmaindustrie ist der größte legale Drogendealer, warf ich irgendwann in den Raum, hatte das von meinem Psychiater, und der Riese nickte verschworen.
Tja, und dann gab es da noch die Mädchen, magersüchtig oder sonst irgendwie kaputt, die sich darüber austauschten, ob es denn nun der eigene Vater, der gute Onkel, der Lehrer, Pfarrer oder sonst wer gewesen sei, ab welchem Lebensjahr, wie oft und wie lange.

Dann schlich ich in mein Bett und zog mir die Decke über den Kopf.


Sintram

Alles in allem war es gut auszuhalten hinter Schloss und Riegel.
Ich durfte noch nicht mit zum täglichen Ausgang und hatte auch offengestanden keine Lust dazu. Draußen tobte die Hölle, hier in meinem Raumschiff aber, randvoll gefüllt mit weißgekleideten Astronauten und einem Haufen Verrückter, Irrer, schräger Vögel und Scheintoter glitt ich gemächlich und geruhsam durch die kosmischen Welten eines fremden Universums, entrückt von Zeit und Raum, bestens versorgt und erfüllt von vollkommener Gleichgültigkeit.

Wir wollen Ihnen einen neuen Kopf verpassen, dazu müssen wir aber den alten abschrauben... Nur zu, gerne.

Die Zusammensetzung meines Tablettencocktails entzog sich meiner Kenntnis, obwohl ich ab und an die surrealistischen Bezeichnungen erfragte, um sie im selben Augenblick wieder zu vergessen. Ihre Wirkung jedenfalls ließ nichts zu wünschen übrig.
Und während draußen der dritte Weltkrieg vertuscht wurde, verging hier drinnen unmerklich die Zeit.

Dass es überhaupt noch ein Draußen gab in meiner Wahrnehmung, verdankte ich den regelmäßigen Anrufen meiner geliebten Frau. Ich konnte ihr freilich nur mitteilen, dass es mir soweit ganz gut ginge und ich die meiste Zeit im Bett verbrächte, dass ich dabei mehr oder weniger unverständlich vor mich hinmurmelteund brabblete, war mir indes nicht bewusst.

Fest stand lediglich, dass ich noch lebte, weshalb und wofür, das war mir vollständig entfallen. Vermutlich um zu schlafen.

Ich wusste beim besten Willen nicht, ob jetzt drei oder vierzehn Tage vergangen waren, als plötzlich vier Weißkittel vor meinem Lager auftauchten, einer davon die Ärztin meiner Verhöre, und mir unmissverständlich mitteilten, dass sie mit mir sprechen wollten. Dazu redeten sie mich mehrmals mit Namen an, das machten sie jedes mal so, weshalb auch immer.

Die offensichtliche Oberärztin, jedenfalls die Chefin, fragte mich eindringlich und sehr offen, ob ich denn garantieren bzw. versprechen könne, mir im Laufe meines Klinikaufenthaltes nichts anzutun. Nicht Hand an mich zu legen quasi oder praktisch.
Kann ich durchaus, sage ich, den Herbst des letzten Jahres hätte ich in einer Klinik verbracht, in dessen Verlauf sich eine Mitpatientin in ihrem Zimmer mit Tabletten das Leben genommen hätte, und da ich nun aus eigener Erfahrung wisse, was so eine Tat bei den Mitpatienten auslöst an Schrecken und Entsetzen, Schock und Trauma, würde ich dergleichen meinen LeidensgenossInnen hier drin niemals antun. Allein deswegen.

So weit meine ehrliche und genau so gemeinte Antwort.

Offensichtlich sei ich ein intelligenter und vernünftiger Mensch, meint da die Frau Chefärztin, und mit etwas Glück könne ich bald in eine offene Station verlegt werden.
Da ich immer noch auf dem Gang rumliege, hab ich nichts dagegen. Und weg sind sie. Gelegenheit für mich, erst mal eine zu rauchen, da ich schon mal wach bin.
Mit etwas Glück... Ich und Glück, ein Widerspruch in sich. Zwei gegensätzliche Pole.

Ich werde erst mal ´ne Runde drüber schlafen.

Sintram

Der geschlossene Kreis

Dieses eine Mal schloss sich der Stromkreis. Ich schlief noch am selben Abend oder Tags darauf in einem Doppelzimmer am Ende des Flurs, umgebettet in die Offene. Mein Zimmerkollege, ein wohlbeleibter gutmütiger Dachdecker mit kaputten Knien und schwerer Depression, ist von seinen Sägearbeiten des nachts einmal abgesehen sehr ruhig, die Station ist relativ hell und geräumig, das Personal sehr freundlich und aufmerksam, das Essen gut.

Immerhin ist es mir wie auch immer gelungen, mein Telefon anzumelden. Ein Freund ruft mich an. Wie es mir denn mittlerweile ginge. Nun, sage ich , besuch mich doch mal. Grade will ich ihm die Stationsnummer nennen, als er meint, er hätte mich doch bereits besucht und ob ich das denn vergessen hätte.
Es dauert ein Weilchen, bis bruchstückhafte Erinnerungen in meinem tauben Kopf auftauchen, auch die Zigarettenstange, die er mitgebracht hat, spricht als Indiz dafür. Wir hätten uns sehr lange und angeregt unterhalten, meint er noch. Nun denn.
Was ich wohl noch alles vergessen habe? Ist wohl das Beste so, man muss nicht alles wissen...

Sehr langsam und in kleinen Schritten wird meine Tablettendosis verringert. Die Gedanken, die in meinem Kopf auftauchen aus dichten zähen Nebelschwaden, wohl eher Höllendämpfen, sind nicht besonders angenehm, andrerseits ebenso wenig bedrohlich. Sie sind einfach da, kalt und klar, und ich betrachte sie ohne Gefühl.

Das Leben betrügt einen nicht. Es ist an sich Betrug. Ein großer abgefeimter Betrug. Wir werden geboren, ohne gefragt worden zu sein, mit Liebkosungen erdrückt oder vernachlässigt, was macht das groß für einen Unterschied? Früher oder später ereilt uns alle das Schicksal, uns als Ungewollte abgelehnt wiederzufinden, wann und wo auch immer.
Regeln hier, Maßstäbe dort, Vorschriften überall. Beurteilungen bestimmen unser Aufwachsen, beliebig geformte und festgeschriebene Normen schwachsinniger Generationen. Jede Generation ist auf ihre ganz spezielle Weise vollkommen idiotisch, und jede neue wähnt sich klüger als die alte.

Ausgüsse verengter Wahrnehmung fesseln uns, Anpassungsdruck schikaniert uns bis ins Private und Intime. Stereotypen. Abziehbilder. Visionen sind nicht erwünscht, Fragen unbeliebt, eigenes Denken ist gefährlich.

Wo zum Teufel sind die Träume unserer Kindheit geblieben? Verwaschene aufgelöste Gesichter rundum. Alle irgendwann zerbrochen. Als ihr Streben nach Glück und Erfüllung an die Grenzen derer stieß, die weder das eine gefunden noch das andere verwirklicht haben. An die Stacheldrahtzäune von Gescheiterten, die ihre Resignation hinter der Fratze des Reifens und der besseren Einsicht verstecken. Die ihr vorzeitiges Absterben zur Allgemeingültigkeit erklären, nur um ihre Erstarrung vor sich zu rechtfertigen.

Alles, was sucht, strebt, ringt und träumt wird ins Reich der Utopie verwiesen. Wie Geier warten sie darauf, dass der Schrei nach Leben in denen verstummt, die da den Tod im Gewöhnlichen nicht ertragen können. Selbstzufrieden und höhnisch verkaufen sie die kalte Asche ihrer erloschenen Flammen als Frucht der Erfahrung. Ignoranten sind sie, abgefeimte Lügner allesamt, Verräter menschlicher Größe und Schaffenskraft. Leugner des Wunders, das da Leben heißt.

Wie aber begegnet ihnen das Leben? Verwirft es sie, verstößt es sie, bestraft es sie? Was kann es bedeuten, dass sie nicht nur ungeschoren davonkommen, sondern sogar belohnt werden? Mit Erfolg, mit Wohlstand und Ansehen, mit Gesundheit und zu allem Spott einem langen Leben. Sie, die nie gelebt haben, sondern nur den Anschein erweckt. Die vorgeben, bedeutend zu sein und unersetzlich, wichtig und maßgeblich.
Obgleich sie bedeutungsloser sind als ein Gänseblümchen, dessen Blühen Jahr für Jahr die Schöpfung verherrlicht. Sie hingegen verherrlichen nur sich selbst. Die Blume blüht wahrhaftig und rein. Der Unwahrhaftige aber, voll Fäulnis und Moder, blendet. Und erntet reichen Lohn dafür.

Wie aber verfährt das Leben mit denen, die da versuchen, aufrecht und ehrlich zu sein? Die sich selbst in Frage stellen, nicht so wichtig nehmen, die leiden an ihren Unzulänglichkeiten, ihr Leben hinterfragen und Schuldbewusstsein entwickeln und in sich tragen? Die ruhelos sind in ihren Herzen, weil dieses nicht das in sich spürt, was eigentlich sein sollte, was ihnen ursprünglich versprochen ward? Die sich klein fühlen, unfähig und bedeutungslos? Ja, mitunter als Zumutung und Last?
Nun, diese wertvollen, tiefen und wahren Menschen sitzen hier mit mir im Raucherzimmer. Bei Gott, das kann doch nur Betrug sein.

Andrerseits, was bringt einem Geschäftigkeit, Tatkraft und Zielstrebigkeit? Lohnt es sich denn, in irgend einer Führungsposition seine Jahre abzuhaken?
Bei genauer Betrachtung sind die Leute hier drin wesentlich interessanter und ungewöhnlicher als die Masse draußen, die sich ziellos durchs Dasein wälzt. Hier begegnet mir der Mensch, wie er in Wahrheit ist: Hilflos, verletzlich, hoffnungslos, verloren. Nirgendwo sonst fand ich die Wirklichkeit menschlicher Natur derart deutlich und unverblümt widergespiegelt als in der Klapse.

Ich verbringe die Tage, Wochen und Monate im Gleichklang steter Wiederholung. Beschäftigungstherapie, Kunsttherapie, Ci Gong, Kegeln, Entspannungsübungen, Visitationsgespräch, therapeutisches Einzelgespräch, Gruppengespräch, Joggen, Duschen, Zigarettenkauf, Essenszeiten, Ruhephasen, Kirchgänge. Mein Alltag ist ausgefüllt, das Leben ist ein ruhiger Strom.

Zwar toben in meinem Innern unverändert Schmerz und Qual, meine müde Seele wälzt sich her und hin in steter Agonie, gedämpft durch Tavor und Neuroleptika lässt es sich hingegen ertragen. Drei ganze Wochen brauche ich, um aufzuwachen.
So lange hatte ich das Gefühl, hier völlig fehl am Platz zu sein unter all den Depressiven und Psychotikern, da ich mir ja lediglich das Leben nehmen wollte, mir aber ansonsten nichts fehlt. Meine suizidale Absicht erschien mir vollkommen normal, ja banal. Eines schönen Morgens jedoch fahre ich aus dem Schlaf hoch mit dem erschreckenden Gedanken, wirklich und tatsächlich knapp am Tod vorbeigeschlittert zu sein, sogar verdammt knapp.
Nie zuvor war ich ihm so nah.

Ich fand mich verändert. Der Mann, der hier eingefahren war vor drei Wochen, existierte nicht mehr. Mein Entschluss zum Freitod, endgültig und abgeschlossen, setzte in meiner Psyche einen Prozess in Gang, der sich trotz der Vereitlung ungehindert fortsetzte. Da ich willentlich mit dem Leben abgeschlossen hatte und die Tatsache meines Weiterlebens meiner geliebten Frau verdankte, also nicht der Konsequenz einer eigenen Entscheidung, vollzog sich in meinem Innern ein tiefgreifender Sterbeprozess.
Weil ich nun die Phase der Verdrängung, des Zorns und der Trauer bereits vor meinem gescheiterten Versuch hinter mich gebracht hatte, befand ich mich im Zustand permanenter Akzeptanz des eigenen Todes.

Sintram

Meine Verfassung glich sehr viel mehr der stoischen Absterbens als der eines Neuanfangs.
Wohl befand ich mich –wie im Verlauf meiner Krankheit zuvor- in einer wellenartigen Auf und Ab Bewegung, die täglich wechselte. Einem Tag mit wilder und unfreiwilliger Agonie, die ich selbst im Tablettennebel als unerträgliche Qual erlitt, folgte ein Tag großer entrückter Entspannung, in deren Verlauf ich dem Jenseits sehr viel näher war als dem Diesseits mit seiner Mühsal und Plage.

Meine komplette Vergangenheit erstand vor mir als abgeschlossener Bereich ohne Berührungspunkte, ich erfuhr mein bisheriges Leben als großes Ganzes, Vollendetes, als eine Art geschlossenen Kreis.
Offengestanden war ich alles in allem ganz zufrieden damit. Meine Irrtümer und Lebenslügen bedrängten mich nicht mehr, da sie ja letztendlich eine notwendige Phase und Erfahrung bildeten, die mich ebendahin geführt hatte, sie als Selbstbetrug zu entlarven. Da sie aber nun keinerlei Einfluss mehr auf meine Zukunft hatten, denn eine solche existierte schlicht und ergreifend nicht mehr, verloren sie auch alle Bedeutung für die Gegenwart.

Das Erleben völliger Losgelöstheit vom Gestern in einem Heute ohne Morgen veränderte meine Sichtweise des Lebens. War ich bisher davon ausgegangen, dass allein bewusstes und waches Erleben des Augenblicks eine sinnvolle Existenz ermöglicht, da es den Grundstein für die Zukunft legt, so erkannte ich nun den Moment als absolute Komponente ohne Richtung und Absicht.
Bisher war ich selbst im Wissen um den Lebenskreis dem linearen Prinzip steter Vorwärtsbewegung gefolgt, im Glauben, dass auch der Kreis einer gekrümmten Linie folgt. Also war mein Verständnis von Zukunft das noch nicht vollzogener Gegenwart.

Jetzt aber, da die Zukunft vollständig aus meinem Bewusstsein verschwunden war, ja ich konnte sie nicht einmal als theoretische Option denken, da also der Kreis meiner Lebensspanne geschlossen und eine runde Sache geworden war, konnte ich im Verweilen absoluten Stillstands und ohne die Hast der Fortbewegung jeden beliebigen Ort meiner Vergangenheit aufsuchen und jeden beliebigen Lebensabschnitt betrachten, als hätte ich ihn grade eben erlebt, ja mehr noch als würde ich ihn grade erleben.

Da ich somit nicht mehr gezwungen war, auf meine Erinnerung zurückzugreifen, die ja nichts weiter ist als abstrahierte Deutung und Bewältigung, sondern quasi mein ganzes Leben urteilsfrei noch einmal durchleben konnte, weil ich mich in allumfassender Gegenwärtigkeit befand, und mein gesamtes Leben noch dazu folgenlos für eine etwaige Zukunft betrachten konnte, also neutral, ohne Verdrängungsdruck und Angst vor möglicher Wiederholung, und mich somit nicht mehr vor meinem Gestern schützen oder verstecken musste, gelangte ich zu einem neuen Verständnis meines Lebens, das jede Untiefe zuließ und jeden bisherigen mühsamen Versuch von Vergangenheitsbewältigung –insbesondere im Rahmen meiner Therapien- nicht nur in den Schatten stellte, sondern in ein völlig neues Licht rückte.

Meine bisherigen Erklärungsversuche für dieses oder jenes wurden zum Teil gründlich widerlegt. Hinzu kam – auf Grund der fehlenden Notwendigkeit einer Wiedergutmachung oder wenigstens Möglichkeit der Vermeidung- dass bisher hinderliche Schuldgefühle und –zuweisungen, sowie Scham und Schmerz auf der einen und Wehmut und Verklärung auf der anderen Seite völlig abhanden gekommen waren. Alles geschah endgültig und wertfrei.

Es war mir möglich, mich selbst in meinem Gestern nicht nur zu sehen, sondern zu fühlen und erleben und infolgedessen aus der Sicht des Ergebnisses, nämlich meiner Persönlichkeit, zu begreifen. Ich verstand mich sozusagen wie einen mir wohlvertrauten Fremden.
Im selben Atemzug entschlüsselte sich mir der Mensch, der ich bin, da ich die Folgen meines Tun und Lassens, meines Erlebens und Schicksals lückenlos und ohne Vorbehalt auf mich beziehen konnte mit all ihren Wirkungen und Prägungen. Ich begriff mich selbst als Teil und Summe des Ganzen.

Gleichzeitig sah ich ebenso klar die Konstante und Unveränderliche meines Wesens und sogenannten Charakters, den roten Faden in meiner Biographie, der sich durch alle Ereignisse, Entscheidungen und Verhaltensweisen meines Lebens zog als Ausdruck meines Individuums, das ich in einer mir bisher verborgenen Dimension erfassen konnte.

Eine derart losgelöste Form befreiter und befreiender Selbsterkenntnis kannte ich trotz größter Mühen bisher nur aus den Berichten Betroffener einer sogenannten Nahtoderfahrung. Also klinisch Toter, die ins Leben zurückgeholt wurden. Als Ergebnis dieser wochenlangen, ungeheuer intensiven und gleichwohl unbeschwerten Lebensrückschau konnte ich sowohl mein gesamtes Leben als auch mich selbst mit völlig neuen Augen sehen.

Und diese Sichtweise war bei weitem nicht immer angenehm, aber sehr befreiend.

Sintram

Stark wie der Tod ist die Liebe

Weniger die Depression als solche bestürzte mich, die ich ja von klein auf kannte und die mich mein Lebtag begleitete, als vielmehr ihre Intensität.
Im Laufe des gewohnten Umgangs mit ihr hatte ich mich zu einer Art Tier entwickelt, hatte Lebenskrisen gemeistert und Schicksalsschläge ertragen, an deren Bruchteil andere zu Grunde gehen, hatte mich in Lebenssituationen begeben, die andere kein Jahr lang ertragen und diese über ein Jahrzehnt und länger durchgezogen und ausgestanden, kurzum, ich war unheimlich stark geworden.

Die letzten Schübe jedoch bezwangen mich. Insgeheim hatte ich gehofft, sie würden sich im Laufe der Jahre an Anzahl verringern und an Stärke nachlassen, je ruhiger ich werden würde, aber leider wurden sie mit wachsendem Lebensalter – wie die meisten Gebrechen- schlimmer und unerträglicher. Das weiß ich nun, mehr auch nicht, also nehme ich folgsam meine Tabletten wie körperlich chronisch Kranke auch.

Den Glauben an den Erfolg welcher Therapie auch immer habe ich in meinem Falle so gut wie vollständig verloren und ad acta gelegt. Was gibt es da noch aufzudecken, was nicht schon offen vor mir liegt? Welche Verhaltensregel sollte ich noch beachten, die ich nicht schon längst –und bei genauer Prüfung sehr lange vor meiner ersten Therapie, ja von klein auf- angewandt und umgesetzt habe?

Mein ganzes Sein ist die Frucht des lebenslangen Kampfes mit der Seelennacht, die mich mal um mal zu verschlingen drohte. Alles, was sie an Positivem auslösen und bewirken kann –und das ist eine ganze Menge- habe ich bereits aus mir herausgequetscht und werde es weiterhin tun, weil ich gar nichts anderes kenne, als mich aus der tiefsten Nacht ins Licht zu schinden.
Meine einzige Möglichkeit, weiterleben zu können, ist die stete Qual in meinem Innern irgendwie zum Ausdruck zu bringen. Ich leide seit ich denken kann und grade so viel, um irgendwie zu überleben, sei es mit oder ohne fremde Hilfe. Etwas anderes kenne ich nicht.

Ich weiß nicht, wie ein Leben ohne Todessehnsucht aussehen soll. Ich bin so sehr daran gewöhnt, dass ich nur im äußersten Notfall ihre Verwirklichung und Umsetzung ins Auge fasse, in Situationen, in denen es „Gesunde“ möglicherweise auch tun würden.
Ich habe bis zum heutigen Tag immer wieder neu gelernt, mit meiner Depression zu leben, über lange Phasen hinweg äußerlich halbwegs normal und unauffällig. Im Grunde war es seit je her mein sehnlichster Wunsch, endlich sterben zu dürfen, um diesem Jammertal und der Pein in mir zu entkommen.
Alles, was mir blieb, war die Akzeptanz dieser meiner Wirklichkeit und meines Wesens.

Ich habe gelernt, das Leben in vollen Zügen zu genießen, soweit es genießenswert ist. Ich habe gelernt, seine Widrigkeiten zu meistern, soweit sie zu meistern sind. Ich habe gelernt, das Beste aus allem und mir zu machen, soweit es ein Bestes gibt. Im Grunde nichts anderes als es sehr viele Menschen tun. Ich habe gelernt zu leben.

Außerdem aber habe ich gelernt zu sterben, qualvoll und verlassen. Ich habe gelernt, jeden Tag zu erleben, als sei er der letzte, und den Augenblick zu begreifen als einziges Gut, das ich besitze und worüber ich verfüge. Ich habe gelernt, bis zum Äußersten zu leiden, über die Grenze menschlicher Belastbarkeit und Tragfähigkeit hinaus.

Ich habe gelernt, jede Art von Überforderung zu meiden, so lange sie sich irgendwie vermeiden lässt, weil sie für mich eine Fahrkarte in die Hölle bedeutet. Ich habe gelernt, vollkommen und absolut alleine mit mir fertig werden zu müssen, und nichts und wieder nichts von mir preiszugeben, was ich für mich behalten will.

Dies hat sich nun geändert. Ich bin nicht mehr allein. Mit meiner Frau habe ich meine zweite Hälfte gefunden. Mein Gegenüber. Meine Entsprechung. Auch sie trägt die Nacht in sich, eine unauflösliche Nacht, ein unzerstörbarer Teil ihrer Persönlichkeit, den zu lieben mir ebenso möglich ist wie mich selbst in meiner Gesamtheit und Gänze. Mit ihr lebe ich das Lebensmodell der Lebensmüden, die ihre Liebe zueinander am Leben erhält, die sich gegenseitig brauchen wie die Luft zum Atmen.
Die einzige Möglichkeit für uns, nicht verloren zu gehen und zu Grunde, ist unser Miteinander, ein Miteinander, das durch Liebe und nichts als Liebe verbunden ist, da wir beide den Tod nicht fürchten.

Als mir mein Fast-Suizid zum vollen Bewusstsein kam, erschrak ich weniger meinet- als ihretwegen. Denn ich war insgeheim stolz auf diese Befreiungstat zur Rettung und Wiederherstellung meines letzten Restes Menschenwürde. Das einzige, was es über diese Welt und zu ihr zu sagen gibt, ist ihre vermaledeite Unfähigkeit, meine Andersartigkeit zu erkennen und ihre Vermessenheit, sie als nicht lebenswert zu deklarieren.
Sie war meiner niemals wert, und nun hatte ich ihr endgültig und entschieden den Rücken gekehrt. Ein Menetekel der besonderen Art.

Nicht über meinen unheimlichen starken Abgang erschrak ich also, sondern darüber, was ich meiner geliebten Frau angetan hätte. Ich hätte sie ermordet, so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich hätte den Menschen, dem all meine Liebe gehört, umgebracht. Das, und nur das entsetzte mich.

So war ich auch nur deshalb froh darüber, noch zu leben. Mir selbst lag nichts mehr am Erdendasein. Aber daran, sie glücklich und lebendig zu sehen. Und das war nur möglich, wenn ich da und bei ihr blieb. Also hatte ich Grund zu bleiben.
So und nur auf diesem Weg fand ich zaghaft ins Leben zurück.
Ihretwegen entwickelte ich so etwas ähnliches wie Lebenswillen. Um meiner Selbst Willen hatte ich längst keinen mehr.

Sintram

In guter Hoffnung

Während ich mit Hilfe der ästhetischen Ci Gong Übungen geradezu meditative Sphären erreiche und mir in der Kunsttherapie in den mythologischen Gestalten von Hades und Charon meine Schrecken vom Leib male, teilt mir meine geliebte Frau per Telefon mit, dass ihr Schwangerschaftstest positiv ausgefallen sei. In Anbetracht ihrer verwachsenen Eileiter käme das einem Wunder gleich.

Nach anfänglichem Schock steigt eine ungeahnte Freude in mir hoch. Ich fühle mich als werdender Vater, verjüngt, begnadigt und stolz. Ansonsten lasse ich die Dinge ruhig auf mich zukommen.

Meine Frau besucht mich zum Wochenende, mittlerweile habe ich Ausgang. In der kalten Bude meines Kumpels, der trotz Geldspritze meinerseits offenbar nicht fähig oder willens ist, uns einen einigermaßen funktionstüchtigen Ölofen zu organisieren, frieren wir uns halb zu Tode.
Wir verkriechen uns im Bett, während das stinkende Monstrum rumort und Rußwolken ausspuckt, ohne dabei Wärme zu verströmen, eingehüllt in einen Berg aus Decken, Jacken und Schals, und träumen wie verliebte Teenager vom Glück eines Kindes. Plötzlich haben wir Zukunft, Aufgabe und Sinn in unserem Leben.

Trotzdem bleiben wir vorsichtshalber skeptisch und abwartend. Denn auf dem Ultraschallbildschirm hat die Ärztin noch immer nichts entdecken können, was sie sehr beunruhigt. Etwas scheint nicht zu stimmen. Gerade noch rechtzeitig wird eine fortgeschrittene Eileiterschwangerschaft sichtbar.
Meine geliebte Frau wird sofort operiert, wobei ich gefangen in der Klinik vor Angst und Sorge fast wahnsinnig werde. Alles verläuft gut.
Wenige Tage später scheint auch die Gefahr einer Depression in Folge des durcheinandergeratenen Hormonhaushalts gebannt. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, zwingt eine schwere Erkältung meine leidgeprüfte Frau erneut ins Bett.

Ihre Enttäuschung ist grenzenlos, ich versuche sie mit regelmäßigen Anrufen zu trösten und ihr Mut zu machen, was mir gar nicht leicht fällt, weil auch auf mir gnadenlose Ernüchterung lastet. Alt, verlebt und müde hocke ich im Raucherzimmer und hadere mit Gott und der Natur.

Abends bitte ich um eine Beruhigungstablette, weil mich der Tavorentzug quält. Eine an an für sich harmlose Pille schickt mich aus welchem Grund auch immer auf den Horrortrip. Die Wände rücken auf mich zu, das Lampenlicht verdunkelt sich, ich schwitze, habe Atemnot und bin nicht fähig, mich auch nur eine Sekunde still zu halten. Will ich mich erheben, streckt mich Schwindel nieder.

Eine schreckliche Vision taucht vor mir auf. Ich sehe das Elternhaus meiner Frau –das ich nur vom Vorbeifahren kenne- unter eine pechschwarze Glasglocke gestülpt. Von den in Wolken verborgenen Bergen weht feuchter Waldgeruch und vermischt sich mit dem süßlichen Körpergeruch dampfender Haflinger.

Plötzlich weiß ich, dass sich meine geliebte Frau das Leben genommen hat. Ungeheuerlicher Schmerz durchfährt mich, mein Herz rast, schweißgebadet taumle ich ins Bad und wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser. Nichts hilft. Wenn sie stirbt, sterbe ich, zerberste vor Schmerz und Schock, das ist mir abgrundtief klar. Nun weiß ich bis in meine tiefsten Seelenkammern, was sie mir wirklich bedeutet. Sie ist mein Leben.

Verzweifelt versuche ich sie anzurufen. Ich habe große Mühe, die Nummern zu finden. Endlich ihre Stimme. Was los sei, ich solle sofort Hilfe holen. Was ich per Knopfdruck tue.
Ich werde mit einer vollen Dosis Tavor weggepustet und erwache am nächsten Morgen in meinen Klamotten in genau der Lage, in der ich ins Dunkel sank. Meine geliebte Frau ruft besorgt an. Sie lebt und ist offenbar wohlauf. Alles war wohl nur ein böser Traum.

Dennoch bin ich wachsam und angespannt. Die Bilder waren sehr wirklich, ich habe noch den Geruch in der Nase.

Das gemeinsame Wochenende ist getragen von Innigkeit und Nähe, ich kehre auf meine Station zurück mit Vorfreude auf die freien Ostertage mit ihr.

Als mich etwa um Mitternacht von Karfreitag auf Karsamstag ihre Abschieds SMS aus dem Schlaf klingelt, bin ich innerhalb von Sekunden hellwach. Die Stationswache ist vakant. Trotz Zittern und Beben gelingt es mir, die Nachtschwester aufzutreiben und die Polizei zu informieren.

Die kommt wenig später in Gestalt zweier junger Beamter beiderlei Geschlechts in mein Zimmer. Ihre Fragen machen mich nur noch nervöser. Weder weiß ich ihre Autonummer noch habe ich eine Ahnung, wo sie sich im Moment aufhalten könnte. Ich kann nicht klar denken, alles dreht sich mir im Kopf, Schüttelfrost quält mich. Ihre SMS schließlich überzeugt die Beiden, eine Suchaktion wird eingeleitet.
"Sie tut es, ich kenne sie, sie tut es. Mein Gott, so glauben sie mir doch." Mehr bringe ich nicht zu Stande. Die Polizistin versucht, mich zu beruhigen. Dann sind sie fort.

Die Nachtschwester verabreicht mir einen Beruhigungs-Cocktail. Die finden sie, meint sie ruhig, das hab ich im Gespür. Glauben Sie mir, die finden sie. Sie verhält sich großartig. Eine Schwester mit Herz und Seele.
Oft sitzt sie mit uns Irren im Raucherzimmer, plaudert und scherzt. Und auch jetzt weicht sie nicht von meiner Seite.

Dann verstreichen die Stunden. Endlos. Zusammengekrümmt hocke ich im Stationszimmer und starre auf das Telefon. Ich kann mich sammeln. Die Gedanken ordnen sich. Ganz nahe bin ich meiner Frau, halte sie fest in Armen und bin entschlossen, mit ihr auch über die letzte Schwelle gehen. Ich spüre, dass sie unterwegs ist dorthin und bleibe bei ihr, so gut ich eben kann. Unendlich nah bin ich ihr.

Zwischen drei und vier der erlösende Anruf. Wir haben sie, sie hat Tabletten genommen, es besteht aber keine akute Lebensgefahr. Wie im Traum lausche ich der Stimme des Polizisten. Der ist offenbar sehr froh und erleichtert, ja fast begeistert. Frohe Ostern, meint er noch.

Im Auto hätten sie sie per Handysignal orten können. Auf einem Parkplatz ganz in der Nähe der Klinik, in der ich im Jahr zuvor fünf Wochen und meine Frau vier Monate verbracht hatten. Einem Platz, an dem wir schöne Erinnerungen teilten. Unsere gemeinsamen Wochenenden waren alle schön, ja wunderschön. Wir unternahmen viel, teilten traute Stunden und glückselige Momente.

Dass sie gerade dort sterben wollte, hätte ich wissen müssen. Ich hätte nur ein wenig überlegen müssen. Wieso um alles in der Welt ist mir das nicht eingefallen? Wie konnte ich nur so idiotisch sein? Das verzeihe ich mir nie.
Plötzlich bin ich todmüde. Vollkommen erschöpft schäle ich mich aus dem Stuhl. Herzlichen Dank für Ihren Beistand, sage ich noch per Handschlag zur Schwester, Sie sind großartig.
Ich? Nein, Sie sind großartig, antwortet sie.

Bevor ich in bewusstlosen Schlaf versinke, frage ich mich verblüfft, warum und wieso ein Trottel wie ich großartig sein soll. Ich komm beim besten Willen nicht drauf.

Sintram


Der Engel

Zwei Tage und zwei Nächte verbringt meine geliebte Frau auf der Intensivstation. Es gelingt mir, sie telefonisch zu erreichen und zu ihr durchzudringen. Sie ist ansprechbar, aber sehr weit entfernt.

All die kleinen Zeichen und Signale fallen mir ein, durch die sie mir in den letzten Tagen ihr Vorhaben geradezu angekündigt hat, denen ich aber nicht die nötige Beachtung schenkte. Ich komme mir vor wie ein Vollidiot und verwünsche alle Beruhigungsmittel und Psychopharmaka.
Nachmittags erleide ich einen massiven Zusammenbruch, weine hemmungslos wie ein Schlosshund, gebe mir die Alleinschuld für ihren Versuch und bin nur mit einer gehörigen Portion Valium ruhig zu stellen. Dasselbe sollte fortan mein täglich Brot werden.

Aus der Intensivstation entlassen, wird meine geliebte Frau in die geschlossene Psychiatrie des nächstliegenden Kreiskrankenhauses eingeliefert oder besser weg gesperrt. Dort erlebt sie die realexistierende Hölle auf Erden. Alte debile Männer, die halbnackt herumirren und in die Gänge urinieren, eine demenzkranke alte Zigeunerin, die dasselbe schamlos auf der Terrasse erledigt, alles Elend und aller Irrsinn auf Erden ist auf ein paar Quadratmeter zusammengeballt.
Indes, sie nimmt´ s gelassen. Nachts leistet ihr eine streunende Katze Gesellschaft, die ich anfangs, als sie mir davon mailt, für ein Gespenst halte.

Nach diesem Horrorwochenende wird sie gottlob in die geschlossene Station des nächsten Bezirkskrankenhauses verlegt. Endlich kann ich aufatmen, sie ist gut aufgehoben und in Sicherheit.
Wir telefonieren regelmäßig, mehrmals täglich, ich erlebe, wie sie langsam zu sich kommt. Natürlich fühlt sie sich schuldig und ist sehr niedergeschlagen.
Aber sie lebt, das zählt, alles andere ist ohne jede Bedeutung.

Mich aber schmettert nach eigentlich überstandener Extremsituation ein erneuter Zusammenbruch nieder, und zwar mit einer derartigen Wucht und Heftigkeit, dass ich nach heftigen Weinkrämpfen bewegungsunfähig und wie ein Sterbender auf mein Krankenbett geworfen bin. Jetzt erst und erst jetzt erreiche ich mein definitives Ende.

Langsam beginne ich mich aufzulösen, ein Gefühl von unbeschreiblicher Schönheit und tiefstem Frieden erfüllt mich. In grenzenloser Freiheit entschwebt mein Geist in die Wolken und zieht mit ihnen davon.
Gott ist gegenwärtig, ein barmherziger und unendlich liebevoller guter Gott, nicht zu schauen, aber absolut zu spüren. Ich sterbe erlöst und leicht wie eine Feder, die von einem zarten Lufthauch davongetragen wird. Es ist ein gutes Sterben. Ein guter Tod.

Endlich habe ich es geschafft. Ich starb am Ostermontag des Jahres 2005, am frühen Nachmittag, friedlich und unbemerkt im Krankenbett der Psychiatrie. Ich entschlief ruhig und selig, von Engeln umgeben, mit mir selbst im reinen und mit Gott versöhnt. Bewusst und befreit hauchte ich meine müde Seele aus. Der Mensch, der ich war, ist nicht mehr.

Es ist seltsam, aber nur wenige Tage zuvor, als ich leidlich guter Dinge war und nichts vom Freitodversuch meiner geliebten Frau ahnte, malte ich zum Erstaunen und wohl auch zur Verunsicherung meiner Kunsttherapeutin einen großformatigen Engel. Der ist grade dabei, meinen toten Körper zu bergen. Ein seltsames Selbstporträt.

Nun, mein Engel hatte Flügel. Die Engel, die mein Sterbelager umgaben, sind von einer lichten Aura umgeben, mit der sie mich umhüllten. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart vollkommen geborgen und sicher. Engel sind keine Fantasiegebilde naiver Geister. Sie existieren, und zwar sehr viel realer als wir flüchtigen Menschen, und in der Tat, sie sind herrlich und wunderschön.

Sterben indes ist ohne Zweifel die beglückendste Erfahrung des Lebens. Nichts ist mit ihr zu vergleichen. Diese Erfahrung verdanke ich meiner geliebten Frau, ohne das diese es wusste geschweige denn beabsichtigte. Ich werde ihr jedenfalls ewig dafür dankbar sein. Sie beantwortete meine einzige letzte offene Frage.

Zwar fürchtet ich den Tod schon lange nicht mehr, der Gedanke an die letzte Schwelle jedoch bereitete mir bisweilen Schauder und Furcht. Jetzt, da ich weiß, was mich an meinem Sterbetag, dem offiziellen sozusagen, erwartet, ist die Furcht freudiger Erwartung gewichen. Wenn mein Körper irgendwann diesen Schritt nachvollzieht und meine Seele endgültig freigibt und entlässt, wird es noch viel intensiver sein wie in meinem seelischen Tod. Sterben, das weiß ich nun aus eigener Erfahrung, ist eine wundervolle Sache.

Es bedeutet Erlösung. Alles Leid verklingt. Auch das der Seelennacht. Mein verdunkelter Astralleib mag getrost ins Weltall hinausschießen.

Das dies alles nun nicht meinem Medikamentenrausch und Schockzustand allein entsprungen war, sondern sich wirklich und wahrhaftig in meiner Seele sprich Psyche abgespielt hatte, ereignet und vollzogen, wusste ich spätestens, als ich aus dem Tiefschlaf, in den ich gesunken war, erwachte.
Alles war verändert. Selbst das Neonlicht schien reiner, das Tageslicht klar und hell. Die Gesichter meiner Mitpatienten trugen weichere, liebenswertere Züge, die der Pfleger und Schwestern umgoss ein geheimnisvoller Schein, ein seltsamer unerkannter Segen, der offenbar ihre verzweifelten und mitunter bis zum Überdruss routinierten Bemühungen entlohnte, und zwar unabhängig von ihrer Verfassung, Gesinnung und Wesensart.
Die nackte Not um mich her, die ich mir noch am Vormittag lässig von Leib und Seele gehalten hatte mit sprödem Humor, erfüllte mich nun mit Mitleid und Anteilnahme.

Vor allem aber, ich liebte meine Frau auf gänzlich neue Weise. Inniger und tiefer denn je. Ohne Besitzanspruch, Forderungshaltung und Einschränkung, ich liebte sie um ihrer selbst Willen mit allem, was sie ist, vor mir war und mit mir werden wird. Ich liebte sie bedingungslos.

Kurzum, ich war ein völlig veränderter Mensch. Ich kannte mich so selbst nicht, war mir aber auf Anhieb durchaus sympathisch. Außerdem lernte ich mich Tag für Tag besser kennen. Nicht, das mir der eben Verstorbene zuwider gewesen wäre, ich kam soweit gut mit ihm zurecht, aber dieses neue Ich gefiel mir weitaus besser.

Ich war entspannter, ruhiger, gelassener und vor allem wohlwollender, offener und gefühlvoller, ja freundlicher. Und sehr viel mehr weniger misstrauisch und ängstlich. Mit meiner neuen Identität konnte ich also durchaus zufrieden sein.

Mit einem Schatz voller wertvoller Erinnerungen und Erfahrungen aus meinem Vorleben im wahrsten Sinne des Wortes harrte ich gelöst und getrost der Dinge, die da noch kommen wollten und sollten. Ob ich nun eine neue Seele bekommen habe, weiß ich nicht, wohl aber ein erweitertes Bewusstsein.

Meine Depression war nach wie vor spürbar zugegen, aber ich nahm sie anders, bewusster und weniger bedrohlich war. Es spielte keine Rolle mehr für mich, ob sie nun endogen, reaktiv, psychotisch, rezidivierend, chronisch oder alles zusammen war, ich lebte mit ihr, auch weiterhin, und allein das zählte.


Sintram

Neuen Wein füllt man nicht in alte Schläuche

Meine Entlassung steht bevor. Vier Monate eines Jahres sind vergangen.

Am Anfang, kurz nach meiner Einlieferung, fragte ich die Stationsärztin, weshalb ich den Psychopharmaka schlucken müsste, ein starkes Zeug wie die Schizos, da ich doch wegen Depression und Suizidgefahr hier sei.
Nun, antwortete sie zögernd, sie hätten Züge einer psychotischen Reaktion bei mir diagnostiziert. Was denn nun der Unterschied sei zwischen psychotisch und Psychose, fragte ich zurück.
Tja, meinte sie, wenn ich mir einbilden, nein wenn ich den Teufel sehen würde, das wäre soweit psychotisch, wenn ich aber glauben würde, der Teufel zu sein, das wäre eine Psychose.
Nun, Chemoblondchen, denk ich, ich bin zweifelsohne der Teufel, aber das werd ich grade dir nicht unter die Nase reiben, da kommst du schon noch drauf.

Zum Glück war Fasching, den hochnotpeinlichen Faschingsball mit geradezu brachial erzwungener Fröhlichkeit nutzte ich für meinen Auftritt. Erst übereich ich der Ärztin ein Gedicht, vom Teufel selbst verfasst, dann schmeiß ich Deep Purple auf den Plattenteller und leg einen wilden Freitanz aufs Parkett wie in alten Discotagen.

All das liegt Ewigkeiten zurück. Die Fastenzeit ist mittlerweile vorüber, Ostern vorbei, der Papst gestorben, und ich sitze immer noch hier drin. Eigentlich wollte ich die Klinik zum ersten angesetzten Termin verlassen, dann aber besann ich mich sehr zur Freude der Pflegerschwestern, die mir eindringlich zum Bleiben rieten, doch noch ein Weilchen. Wenigstens bis ich meinen Valiumentzug durchgezogen habe.

Eine sehr gute Entscheidung, wie ich bald merken sollte. Schweißausbrüche, Zittern, quälende Unruhe, Angstattacken, Schlaflosigkeit, grundlose Aggressivität – kurzum das ganze Spektrum und die volle Palette eines waschechten Turkey drehten mich gehörig durch die Mangel. Dafür aber kann ich wieder klar denken, ein fantastisches Gefühl.

Inzwischen hatte ich beim Kegeln ganz brauchbare Fähigkeiten entwickelt und gehörte immer öfter zur Siegermannschaft. Außerdem übte ich mich in Badminton und Boules. Alles machte mir zudem redlich Spaß, nicht immer, aber immer öfter. So verging wenigstens die Zeit.

Die Leiterin der Gesprächsgruppe, ihres Zeichens Psychologin, verabschiedete sich in den wohlverdienten Urlaub und meinte zu mir, ich solle mir meinen Freigeist bewahren.
Mach ich, was sonst? Ich hab sonst keinen Geist.

Schließlich verlasse ich Klinik und Mitpatienten, sowohl das eine wie die andern werde ich in guter und dankbarer Erinnerung behalten. Inzwischen läuft mein Hartz IV dank der Unterstützung des zuständigen Stationssozialpädagogen, das ist zwar nun nicht gerade viel, eigentlich ein lächerlicher Betrag, zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel, aber immerhin besser als Garnichts.
Da mir glücklicherweise auch die Miete bezahlt wird, niste ich mich endlich in der Zweizimmerbude meines Kumpels ein. Mit dem hab ich erstmals Unstimmigkeiten, als er meiner Exlebensgefährtin gedankenlos vom Suizidversuch meiner geliebten Frau erzählt. Ich hätte ihm derlei Indiskretion und Instinktlosigkeit gar nicht zugetraut.

Meine geliebte Frau fehlt mir entsetzlich. Da das Geld nicht für die langen Zugfahrten reicht, und sie vorübergehend fahruntüchtig und ohne Auto ist, sehen wir uns sehr selten. Dreimal täglich telefonieren wir deshalb ausgiebig, was allein Unsummen verschlingt, aber das ist uns die kurze Nähe allemal wert. Sie schreitet mit festen Schritten der Besserung entgegen, Woche für Woche geht es mit ihr bergauf.

Mit mir hingegen trotz ambulanter Nachbetreuung einer karitativen Einrichtung in Form von Sozialarbeiter und Gesprächsgruppe stetig den Bach runter. Der Grund ist so einfach wie einleuchtend. Ich lebe in meiner eigenen Vergangenheit. Und die ist tot.
Das neue Leben wartete auf mich in Gestalt meiner geliebten Frau weit in der Ferne. Nach endlosen Wochen konnte ich sie endlich besuchen.

In einem Cafe erzählt sie mir von den Stunden ihres Freitodversuches. Dabei leuchtet ihr Gesicht in entrückter Schönheit. Nur ich kann diese sehen, fährt es mir durch den Kopf, nur ich kann verstehen, welche Größe und Selbstüberwindung ein Suizidversuch in sich birgt.
Verzweifelt suchten wir nach Unterkunft in der nahen Stadt an der Windung des Flusses, jedoch vergeblich. Schweren Herzens mussten wir Abschied nehmen. Allein diese Begegnung gab mir die Kraft für die nächsten Wochen.

Denn die verstreichen, bis ich sie in ihrem Bezirkskrankenhaus wiedersehe, einer parkähnlichen Anlage mit zum Teil schmucken Gebäuden, mit eigner Kapelle und Denkmal aus der NS-Euthanasiezeit des Grauens. Junge Amseln kauerten im Nest, Eichhörnchen hüpften von Baum zu Baum. Hier ließ es sich gut aushalten.
Unsere erste gemeinsame Nacht schloss diese Lücken. Wir waren uns nahe und vertraut, als wäre nichts gewesen, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Das gab uns Sicherheit, Kraft und Halt.

In meiner Bude aber schwanden mir die Kräfte mit jedem Tag, den ich länger in dieser Stadt verbrachte. Es war, als würde ich durch das Leben eines anderen geistern, dessen Erinnerungen in meinen Verstand transportiert worden waren.
Ich wanderte über Hügelketten und radelte durch Flusstäler, allüberall lagen wie abgezogene Schlangenhäute Fetzen seines Lebens herum, in jeder Gasse, jedem Winkel, jedem Platz, jeder Kirche der Stadt flüsterte und raunte seine Stimme in mir, und sie sprach von Einsamkeit, Verbitterung, innerer Immigration, Isolation und Elend.

Von einem gewaltigen Selbstbetrug erzählte sie mir, einer Lebenslüge ohne Maß und Lot, in der er gelebt und sich leidlich zufrieden, ja bisweilen glücklich gewähnt hatte.
Um Monat für Jahr tiefer und tiefer in die Seelennacht zu gleiten, weil etwas in ihm nach Verstandensein, Geborgenheit und Liebe schrie. Unablässig, Tag und Nacht, ohne je etwas anderes zu vernehmen als den Hall seines eigenen Echos. Bis zu dem Morgen, an dem er auch dieses nicht mehr erkannte.

Ein Unglückseliger war er, ein Verzweifelter, ein Vergessener. Er dauerte mich, tat mir aufrichtig leid, aber nun, er war verstorben, ich konnte ihm nicht mehr helfen, sein Scheitern und Zugrundegehen machten mich traurig, das wohl, aber irgendwann ging er mir mächtig auf die Nerven.
Zumal er mir ständig begegnete in den Blicken und Worten meiner Freunde, die mich mit ihm verwechselten und mir begegneten, wie sie wohl ihm begegnet waren. Und fürwahr, er musste ein schwieriger Charakter gewesen sein.

Sintram

Der Zwängler

Auf wackligen Beinen stand mein neues Leben. Verletzlich wie ein Kind, von einer gehörigen Tablettendosis belämmert, schwach und angreifbar, so bezog ich die zwei niedrigen, ausgekühlten Zimmer. Die Fenster befanden sich nicht einmal auf Kniehöhe und gaben kaum einen Blick auf den Himmel frei.
Dennoch gelang es mir, den Räumen Gemütlichkeit und Wohnbehagen abzugewinnen. Mit allerlei Bildern und gut sortierten und verteilten Regalen schuf ich mir ein Zuhause. Die hässliche alte Couch verbarg sich unter einer indischen Decke, und die roten Boxen füllten die alten Gemäuer mit Musik.

Ich wusste, dass ich mindestens acht Wochen auf meine geliebte Frau warten musste und war fest entschlossen, diese Wüstenzeit zu überstehen. Endlich hatte ich die Ölofen zu ausreichender Funktionstüchtigkeit gebracht, und die Spatzen vor dem Fenster freuten sich über meine Apfelputzen.
Gemüse, Obst und Brot kaufte ich im kleinen Laden gegenüber bei den Bauersleuten, vertiefte mich in Musik und begann wieder zu lesen. Eine Fähigkeit, die mir vollständig abhanden gekommen war.
Außerdem schrieb ich Gedichte, mit Hilfe derer ich versuchte, meine Erlebnisse und Stimmungen in Reimform festzuhalten und zu verarbeiten. Eine gute Stütze und reale Therapieform, die ich mir in der Klinik angewohnt hatte. Zudem eine Art Tagebuch.

Einmal die Woche erschien ich pünktlich zum Gesprächstermin bei einem engagierten Sozialarbeiter, der in einer karitativen Einrichtung immerhin über ausreichend Erfahrung mit Depressiven verfügte und mir mit Rat und Tat unter die Arme griff. Ebendort besuchte ich eine Gesprächsgruppe, die zwar nicht das Gelbe vom Ei aber ein Stück Struktur darstellte und in der ich mich langsam öffnen und mitteilen konnte. Unter Leidensgenossen gelingt das gut.

Ich ging viel spazieren, joggte ab und zu und erledigte alle Besorgungen und Termine per Rad, eine zusätzliche Art der Ertüchtigung. Hinzu kam noch die allwöchentliche Bandprobe. Hier freilich stellte ich einen wachsenden Entfremdungsprozess fest, nichts war mehr wie zuvor, ich hatte das Kiffen aufgegeben und war dafür zum Kettenraucher mutiert, meine Freunde lebten in einer anderen Welt.

Morgens, Mittags und Abends telefonierte ich mit meiner geliebten Frau. Unsere Gespräche und das Gefühl ihrer Nähe gaben mir Trost, Kraft und Zuversicht. Sie waren mir Halt und Mitte und rechtfertigten die horrenden Telefonrechnungen.

Eigentlich hätte alles soweit gut sein können, mein Hartz IV lief, die Miete übernahm ebenso das Arbeitsamt, so dass ich aufatmen und Ruhe hätte finden können nach all der Ungewissheit und Bedrängnis des letzten Jahres.
Jedoch tobte ein Derwisch durchs Haus, polterte siebzig mal am Tag die Treppe rauf und runter und war mit schier besessenem Eifer darum bemüht, eine Atmosphäre unsteter Hast und getriebener Ruhelosigkeit zu verbreiten. Sein kompaktes Sammelsurium aus Stress und Hektik verjagte jeden Geist der Ruhe und Kontemplation wie einen unerwünschten Eindringling und Störenfried.

Ich hätte nun keinerlei Probleme damit gehabt, diese geballte Ladung zielloser und zerstreuter Dynamik an meinem Sitzfleisch vorbeigehen und von mir abgleiten zu lassen wie das Donnern der Traktoren auf der Strasse unter meinem Fenster oder das anhaltende Gebell der armen Kettenhündin im Hof gegenüber, doch diese destruktive und unstrukturierte Form von Negativenergie richtete sich von Anfang an und mit jeder Woche in zunehmendem Maße und mit geradezu feindseliger Zielstrebigkeit gegen meine Person.

Ich putzte Bad und Küche, Treppe und Flur, was keinerlei Beachtung geschweige denn ein Wort der Anerkennung fand, hingegen wurden mir ein paar Brotkrümel auf dem Küchentisch oder ein paar Haare am Putzlappen förmlich um die Ohren geschlagen und behandelt wie Entgleisungen meinerseits. Ich verbreitete offenbar unerträgliche Zustände im Haus und war eine Zumutung und ein Ärgernis.
Der hochneurotische Zwängler, als der sich mein bisheriger Freund entpuppte, warf mir jede noch so unbedeutende Kleinigkeit vor als Beweis und Ausdruck meiner Lebensuntüchtigkeit und asozialen Gedankenlosigkeit. Mit regelmäßiger Heftigkeit brüllte und zeterte er mir völlig unkontrolliert seinen Lebensfrust ins verblüffte Gesicht, mit vorliebe frühmorgens, seine absurden und obskuren Bezichtigungen und Maßregelungen machten auch vor verletzenden Beleidigungen nicht Halt.

Hatte ich den ersten Schock verdaut und im Stillen beschlossen, seinen unbotmäßigen Forderungen geradezu skurriler Pedanterie um des lieben Friedens Willen Folge zu leisten, wurde derlei Entgegenkommen konsequent ignoriert. Suchte ich mit wachsender Verzweiflung ein klärendes Gespräch, wurde ich gekonnt abgewimmelt und prallte gegen eine Front gespielter Freundlichkeit.
Er vermittelte mir mit subtilem Geschick das unterschwellige Gefühl, dass ich ihm dafür dankbar sein müsse, von ihm ins einfache und schlichte Leben eingeführt zu werden. Außerdem sei alles, vor allem aber er, in bester Ordnung.
Ich war ihm selbstverständlicher Weise keiner ernsthaften Auseinandersetzung wert, da er ausschließlich und von vornherein im alleinigen Recht war und ich offenbar nur mit Hilfe von Ausbrüchen, chronischen Beanstandungen und kontinuierlicher Kritik zu einem erträglichen und brauchbaren Mitbewohner gedrillt werden konnte.
Als wäre nichts gewesen, pumpte er abends Geld von mir, ein Notfall versteht sich, während er mich noch am selben Morgen zur Schnecke gemacht hatte.

Langsam aber umso sicherer gelangte ich zu der Überzeugung, dass der Kerl entweder völlig durchgeknallt oder aber bösartig sei oder –worauf es sich hinauslief- beides zusammen. Er machte mir das Leben im Hause derart zur Hölle, dass ich mich nur noch während seiner Abwesenheit in die Küche traute und jede unnötige Begegnung vermied.
Ich ging ihm aus dem Weg, wo ich konnte, ja ich floh förmlich vor ihm und verkroch mich in meiner Bude wie in einem Bunker.

Sein geradezu militanter und herablassender Psychoterror demoralisierte mich zusehends. Ich hatte seinen Demütigungen nichts entgegenzusetzen, da ich mich im Zustand der Wehrlosigkeit einer gemäßigten Depression befand, die mich lähmte und dazu nötigte, die Schuld tatsächlich bei mir und meinem Unvermögen zu suchen.

Ein Absurdum, da ich sowohl mit ausreichender Erfahrung in punkto Haushaltsführung als auch mit allen nötigen Kulturpraktiken ausgestattet war, er hätte sich eigentlich keinen besseren Untermieter wünschen können. Außerdem kannte ich das einfache Leben zur Genüge aus meinen Jugendtagen, vielleicht radikaler und extremer als er, und brauchte etwa vier Wochen, um mich geduldig in dessen Widrigkeiten zu fügen und den anfallenden Herausforderungen Herr zu werden.

Was dies betraf, war ich hart im nehmen.


Sintram

Der Hagestolz

Die neue Flamme, die ihre Freizeit im Haus verbrachte, kannte ich bereits von einem Jahre zurückliegenden Aufenthalt im Bezirkskrankenhaus her. Damals war sie das Küken unter den Glucken sprich Krankenschwestern, eine unsichere scheue Schülerin.
Diese durchaus sympathische mittlerweile zur Frau gereiften Person begegnete mir mit entgegenkommender Freundlichkeit, lud mich zum Kaffee oder Essen ein –wobei mein Freund gute Miene zum bösen Spiel vortäuschte- und war außerdem begeistert, dass eine ihrer Hündinnen voll auf mich abfuhr.
Der Mischlingshund hatte seine Jugend in der Türkei verbracht. Sie sprach denn auch türkisch und war eine Fremde unter Fremden wie ich. Verwandte Seelen finden sich überall.

Und nun war die Psychiatrieschwester über beide Ohren in meinen Freund verliebt, voll guten Willens und zu vollem Einsatz für diese vom Altersunterschied her nicht ganz einfache Beziehung bereit, was das Zusammenleben mit ihm betraf. Da war ihr nämlich einiges abverlangt.
Zum einen betrieb dieser seinen Arbeitsalltag wie eine Art Mission, um die sich alles und jedes zu drehen hatte. Sein im Grunde verwaschener und flexibler Terminplan war um jeden Preis einzuhalten.
Abends war uneingeschränkte Rücksicht auf seine Befindlichkeit und Übellaunigkeit zu nehmen, die er rücksichtslos auslebte. Dass seine angeschlagene Gesundheit –eine labile Bandscheibe- hierbei jeden Ausbruch rechtfertigte, verstand sich von selbst.

Hinzu kam eine ausgeprägte und widerspruchsempfindliche Fähigkeit, nach Herzenslust zu lamentieren und zu jammern. Dass auch seine Freundin unter einer Hauterkrankung zu leiden hatte und in ihrem wahrlich nicht einfachen Beruf Belastungen und Stress ausgesetzt war, die er sich nicht einmal im Traum ausmalen konnte, war selbstverständlich hinter seinen heroischen Existenzkampf zu stellen und ohne größeres Gewicht.

Die Wochenendgestaltung drehte sich fast ausschließlich um seine Pseudo-Familie und die gemeinsame Gestaltung mit dieser, die da aus seinem pubertierenden Sohn –der bei Muttern lebte- und dessen entzückendem Hund, seiner Ziehtochter und jungen Mutter einer Tochter nebst deren Freund und allerlei sonstigen Bekannten bestand.
In dieses sein System hatte sich seine Freundin bedingungslos zu integrieren oder aber fernzubleiben. Etwaige Bevorzugungen –was Zeit und Unternehmungen betraf- stellten eine Zumutung dar, ja er warf er nicht nur einmal vor, sie hätte ja schließlich gewusst, auf was sie sich einlasse.

Kam sie etwa krank und völlig erschöpft vorzeitig von der Arbeit, ließ er sie in ihrem Zimmer allein und widmete sich stattdessen seiner Ersatzfamilie, die problemlos ohne ihn zurecht- und ausgekommen wäre, da sein ruheloser Aktivismus auch für diese durchaus nervende Eigenschaften besaß, abgesehen von seiner penetranten Neunmalklugheit.

Was auch immer er mit seiner Freundin unternahm, stand unter chronischem Zeitdruck und limitierter Dauer, da er ja immer noch „so viel zu tun“ und Arbeit liegen hätte, die er dann erstaunlicherweise ebendort liegen ließ, wenn er allein Zuhause in seine Zeitungen versank und träge herumlungerte.

Sie war kaum ausgelaugt und todmüde über die Türschwelle gestolpert, empfing er sie mit unerledigten Hausarbeiten, der Schrank im Flur hätte längst abgebaut und ins Schlafzimmer verfrachtet werden müssen, und ehe sie sich’s versah, war er auch schon dabei das alte Teil zu zerlegen.
Als ich ihre erschöpften Züge sah, musste ich ihnen meine Hilfe regelrecht aufdrängen, was er nur widerwillig gelten ließ, weil er es geflissentlich vermied, bei mir auch nur in noch so unbedeutender Schuld zu stehen. Dies hätte quasi die Machtverhältnisse verschoben.
Das Sagen im Haus aber hatte er und er allein.

Dankbarkeit erwartete ich ohnehin längst nicht mehr. Ich tat die Gefälligkeit eher für sie, die mir wirklich leid tat. Kochte sie, und sie kochte gern und gut, funkte er ihr unablässig dazwischen. Bis hin zu Wasserverbrauch und Auswahl der Kochtöpfe schrieb er ihr jeden Handgriff vor und mäkelte herum, was er wieder alles zu reinigen hätte, wenn sie diese oder jene Sauberkeitsregel missachtete.

Hier erlebte ich sie zum ersten mal ungeduldig und gereizt. Nun, ich hätte ihm wohl eine Pfanne über den Kopf gezogen. Aber wie das bei Frauen eben oft so ist, besaß auch sie die sogenannte Aggressionshemmung und schlitterte zusehends in die Rolle der Dulderin.

Ihr ansonsten recht sonniges Gesicht verdüsterte sich im Laufe der Wochen erschreckend, wurde länger und schmaler, ihre Augen schimmerten matter, ihr Lachen verschwand so gut wie vollständig, ihre Stimme war belegt und müde.
Die Hündin, die mich mochte, spürte wohl die wachsende Verzweiflung ihres Frauchens. Apathisch lag sie in der Küche herum, und wenn ich mit ihr sprach, blickte sie mich mit todtraurigen Augen an.
Ach meine Gute, sagte ich tröstend, du weißt ja gar nicht, wie gut es dir geht. Du hast ja keine Ahnung. Sei bloß froh, dass du kein Mensch sein musst.
Und verpasste ihr ein Leckerli. Als sie anfing, auch an diesem das Interesse zu verlieren, wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte.

Während mein Freund nicht müde wurde, überall von seiner traumhaften Beziehung zu schwärmen, wie gut doch alles klappen würde und wie toll es doch mit ihr sei, war sie insgeheim längst dabei, ihre sieben Sachen zu packen und das Weite zu suchen. Und ich verstand sie verflixt und zugenäht nur allzu gut.

Denn ich erlebte einen aufgeblasenen und selbstgefälligen alten Hagestolz, der seine Partnerin wie eine Dienstmagd behandelte und ihre Aufopferungsbereitschaft schamlos ausnutzte. Geradezu verbissen kehrte er bei jeder Gelegenheit den lebensklugen und überlegenen Macker heraus.
Ihre zaghaft vorgebrachten Einwände quittierte er mit einem kühlen Lächeln, seine Stimme nahm plötzlich Flüsterton an, während er seinen beliebigen Standpunkt unmissverständlich zum Dogma erklärte. Ihm war nicht beizukommen, ein Meister der passiven Aggression.

Seine Freundin, die ihn ganz offensichtlich wirklich liebte und sich mit aller Kraft um ihn bemühte, zerbrach an seiner Fassade. Sie wurde förmlich aufgerieben.
Neuerdings begegnete sie mir fast verlegen, als wolle sie sich bei mir für etwas entschuldigen. Ganz offensichtlich wurde er nicht müde, mich bei ihr schlecht zu machen, warum auch immer.

Nichtsdestotrotz erkannte sie meinen erneuten Schub auf Anhieb –Berufserfahrung- und riet mir in die Klinik zu gehen, was ich ja dann auch tat, während er dem Ganzen mit unverstellter Gleichgültigkeit begegnete.


Sintram

Lebensinhalt

Der einzige Mensch, mit dem ich in diesen Zeiten arger Bedrängnis verbunden war und der zu mir stand, war meine geliebte Frau.
Sie war fassungslos am Telefon, da sie einen Freund erwartet hatte, der mit mir Abende verbringt, musiziert, auf Kneipentouren geht, oder sonst was mit mir unternimmt.

Da sie ihn nur von seiner freundlichen und gewinnenden Art her kannte, mit der er ihr bei der ersten Begegnung entgegengekommen war, ja nur seine Maske, war sie wie vor den Kopf geschlagen. Wie sollte sie auch wissen, dass sich hinter dem Blendwerk des Sonnyboys ein griesgrämiger Misanthrop verbarg?

Ich ging ihm fortan aus dem Weg, zog mich mehr und mehr zurück, versteckte mich regelrecht in meinen vier Wänden und begann mich mehr und mehr wie ein in die Enge getriebener Gefangener zu fühlen. Mein Unbehagen wuchs mit jeder Woche, und langsam aber umso sicherer glitt ich in erneute Verdüsterung.

Hinzu kam meine völlige Heimatlosigkeit, was die alte Stadt betraf, der ich bereits vor langem den Rücken gekehrt hatte. All ihre Stätten waren mir fremd geworden, sie wirkten verlebt und schal auf mich.
Der Mann, der hier dreizehn Jahre seines Lebens verbracht hatte, war ich nicht mehr, und der, der ich jetzt war, hatte die verlogene Wichtigtuerei dieses Provinznestes und ihre verengte Gutbürgerlichkeit derart leid und satt, dass ihn die Plätze, Türme und Mauern regelrecht anwiderten.
Eine lähmende Aura hing über den Gemäuern, ich mied Kneipen und Feste, wich Begegnungen aus, wanderte lieber durch die Wälder der Höhenrücken, die sie umschlossen oder die Flussufer entlang. Aber selbst hier hatte ich alles gesehen und hinter mir.

Wie ein Klos hing mir mein altes Leben mit der Lebensgefährtin, der weitmöglichst aus dem Weg ging, am Hals. Mein Gestern verdunkelte mein Gemüt in dem Maße, in dem mir das Morgen in dieser Umgebung mehr und mehr zum Albdruck wurde.

Es war als huschte ich in meinen Grabhöhlen herum wie mein eigener Schatten. Ich sah hier vor Ort keine Zukunft mehr, kein Leben, das sich zu leben lohnt, weder für mich noch für meine geliebte Frau.

Sie allein war der Grund für mich weiterzuleben, sie war der einzige Halt und Sinn für mich, und obwohl ich ständig ihre Gegenwart spürte, begann ich mehr und mehr unter der räumlichen Trennung zu leiden. Sehnsucht und Traurigkeit höhlten mich aus. Ich spürte wie meine mühsam erworbenen und errungenen Kräfte schwanden wie Schnee in der Frühlingssonne.

Da es mir finanziell nicht möglich war, Zugreisen und Pensionsübernachtungen zu bestreiten, wohingegen sie aufgrund ihrer Medikamente zur Fahruntüchtigkeit verdonnert blieb, sahen wir uns über Wochen nicht. Ich ertrug die Trennung nur mit äußerster Kraftanstrengung.

Ohne die Infusion der täglichen Telefonate wäre ich längst eingebrochen. Unsere Gespräche waren getragen von inniger Nähe und Vertrautheit, wir halfen und gegenseitig und zehrten von der Gewissheit, geliebt und nicht allein zu sein.
Es war, als wären wir über mehr als hundert Kilometer hinweg stets vereint und zusammen, als würden wir gemeinsam leben. Regelmäßige Briefe vertieften diese Gefühl unzertrennlicher Verbundenheit.

Meine Frau konnte meine Stimmungen ebenso erspüren wie ich die ihren, sie war der einzige Mensch, der mir tief in die Seele blicken konnte und den ich offen in meine Seele schauen ließ. Nie hatte ich das Gefühl, etwas vor ihr verbergen zu müssen.
Sie war mein ganzer Halt, meine Heimat und Ort der Geborgenheit, zu der ich Zuflucht nehmen konnte und die mich auffing, tröstete und verstand, selbst und gerade als ich erneut von Freitodgedanken heimgesucht und geplagt wurde.

Diesmal nahm ich ihren Rat ernst, Hilfe zu suchen. Doch selbst die Gesprächstherapie bei einem sympathischen Arzt meiner Wellenlänge half nicht mehr, meinen Rückfall abzuwenden. Mit letzten Reserven versuchte ich, den Kopf über Wasser zu halten, da ich fest entschlossen war, wenigstens bis zur Entlassung und Rückkehr meiner geliebten Frau durchzuhalten.

Beim einzigen wunderschönen Besuch in einem hellen Pensionszimmer mit Blick auf den Fluss registrierte meine Frau meinen desolaten Zustand und machte ihn mir recht schonungslos selbst bewusst. Ich zögerte noch ein paar Tage verzweifelt, aber schließlich spürte ich, dass mich meine Antidepressiva mich nicht mehr ausreichend abdeckten.

Eines Nachmittags saß ich allein in der Küche über meinen Bratkartoffeln und weinte unvermittelt los, ohne etwas dagegen tun zu können. Diese Weinkrämpfe kamen von nun an regelmäßig und mehrmals am Tag über mich. Ich wusste, was die Stunde geschlagen hatte.

Die Qual kam zurück, mit großer und vernichtender Wucht, und ich schaffte es mit letzter Kraft, meinen Sozialpädagogen anzurufen und mich von ihm ins Bezirkskrankenhaus verfrachten zu lassen.
Selbst hierbei brauchte ich die Hilfe von Teilnehmern der Gesprächsgruppe, die meinen beklagenswerten Zustand sofort erkannten und mir unter die Arme griffen.

Ich war also wieder so weit. Es ging mir hundserbärmlich elendiglich.


Sintram

Vis-a-vis

Mein so gut wie wirkungslos gewordenes Antidepressivum wurde sofort abgesetzt. Bald befand ich mich im nackten Schub, dessen Qual ich mit Tavor zu dämpfen suchte.

Zu dieser vielzitierten Droge ist zu sagen, dass sie zu den härtesten gehört, die ich im Laufe meines Lebens konsumiert habe. Ihre Wirkung beeinflusst die gesamte Persönlichkeit. Denkfähigkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Zeitgefühl und Reaktion sind beeinträchtigt und verändert.
Ohne das explizite Bewusstsein eines Rauschzustandes zu erleben, befindet sich das Individuum in einem geschlossenen Schutzraum bar jeden Realitätsbezuges, in dem es keinerlei Probleme gibt.
Alles ist locker und einfach, zwar wird die Pein der Depression noch wahrgenommen, indes sie spielt keinerlei Rolle mehr. Jede Todesangst ist absoluter Gleichgültigkeit gewichen.
Die Suchtgefährdung ist enorm, schon nach wenigen Tagen stellt sich körperliche Abhängigkeit ein, von der psychischen ganz zu schweigen.

Nach jahrelangem zum Teil haarsträubendem Missbrauch in der Erprobungsphase dieses Wundermittels findet seine Anwendung inzwischen verantwortungsvollen Umgang und vorsichtige Dosierung.
Seine Wirkung lässt sich höchstens mit der von Heroin vergleichen, in der subtilen Beeinflussung und scheinbar gemäßigten Berauschung ist Tavor jedoch als noch extremer und massiver zu definieren, vor allem was Länge und Dauer des Entzugs betrifft.

Im Grunde ist dieses Chemiepaket ein konzentriertes Sammelsurium aus allem, was in herkömmlichen Drogen an Stoffen zu finden ist.

Unter massivem Beschuss kämpfte ich mich im Zustand völliger Verzweiflung durch die endlosen Tage, abgelöst von betäubtem Dahindämmern in stoischer Schicksalsergebenheit.
Die ersten Nächte verbrachte ich in einem Dreibettzimmer. Einer der Mitinsassen fing zwischen drei und vier Uhr morgens laut und gellend zu schreien an, ohne davon wach zu werden. Morgens wusste er nichts davon.

Endlich wurde ich in ein Doppelzimmer verlegt. Mein Zimmerkollege ist ein sogenannter Schmerzpatient. In Folge oder besser trotz einer Bandscheibenoperation war er gezwungen, die Marter dauernder Schmerzen zu erdulden. Darüber war er akut lebensmüde geworden. Ein angenehmer, freundlicher Zeitgenosse, dem ich seinen Hang zu volkstümlicher Musik gern verzieh.

Ansonsten ist so gut wie nichts geboten auf der recht trostlosen Station. So oft es geht, fliehe ich in die Beschäftigungstherapie. Mit Tuchmalerei und Sandsteinmodellierung überbrücke ich die schleichenden Stunden.
Dem persönlichen Einsatz meines Sozialpädagogen verdanke ich die baldige Überweisung in die Tagklinik, die mir bereits von verschiedener Seite wärmstens empfohlen worden war. Also entschließe ich mich nach einer Woche Stationsleben, die verbleibende Frist bis dahin zu Hause über die Runden zu bringen.

Ich habe genug von Krankenbetten, Speisesälen und Stationsfluren. Was ich noch vor Wochen als Ort der Geborgenheit und Sicherheit erlebte –obgleich in einer wesentlich freundlicheren Station- fängt mich jetzt nicht mehr auf, sondern zieht mich im Gegenteil hinunter und drückt auf meine Stimmung.
Daran erkenne ich, dass es mir alles in allem doch etwas besser zu gehen scheint. Es war mir außerdem gelungen, den Schub rechtzeitig zu erkennen und abzufangen. Eine Erkenntnis, die mir ein Stück Selbstvertrauen zurückgibt und Ruhe einflößt.

Noch etwas bewegt mich dazu, die Klinik vorzeitig zu verlassen. In den Monaten meines Aufenthalts hatte ich die verschiedensten Formen von Depressionen, Psychosen oder ähnlichen seelischen Erkrankungen kennen gelernt. Ich beobachtete ein Sammelsurium von Leid und Verzweiflung, und ich war all des Elends müde geworden. Es ist grenzenlos und ohne Vergleich.

Sicher ist es kein Problem, mit einem Mann zu diskutieren, der wie ein Insekt magisch von den Scheinwerfern eines Autos angezogen in dasselbe gelaufen ist nach tagelangem Umherirren und nun nicht nur in der Beschäftigungstherapie eifrig seine vertrackten Traktakte zum besten gibt.
Deren im Grunde hochphilosophischer Inhalt ist nur dem verständlich, dessen Gedankengänge alle Hemmungen verloren und Schranken überwunden haben, also etwa mir. Über die Zeit, das Sein, das Wesen des Menschen und so fort, geht es durch verschachtelte Formulierungen, Widersprüche, aufgelöste Gewissheiten und gewagte Theorien, dass einem nach Minuten der Kopf raucht. Es sei denn, man lässt einfach alles so stehen und gelten, was ich tat und was ihm wiederum gefiel.

Es ist durchaus kurzweilig, meine Rauchpausen mit einem Waffennarr im Rambo-Look zu teilen, dessen grassierende Paranoia ihn in den Dschungelkrieg versetzt hat, wo ihm Vermieter, Nachbarn und Polizei nach dem unbescholtenen Leben trachten.
Unterhaltsam deshalb, weil es genügt, in seine Welt hinabzutauchen und seine Angst ernst zu nehmen, um ihn beruhigen zu können wie ein alter Hase im Schützengraben.
Nach Abklingen seiner Psychose wird er denn auch zum durchaus umgänglichen, intelligenten Zeitgenossen.

Es ist allemal interessant, einem Familienvater zu lauschen, der sämtliche erhältliche Fernsehzeitungen kaufte, um seiner Frau beweisen zu können, dass er mit nicht im Programmheft angeführten Geheimbotschaften traktiert und beschossen wird, von wem auch immer.
Es ist anrührend, seine Frau nebst seinen zwei noch recht kleinen Kindern beim Besuchswochenende kennen zu lernen, um das Ausmaß dieser Tragödie zu begreifen.

Es hat durchaus komische Züge, einem Altlinken Gehör zu schenken, der von seinen Abenteuern im Supermarkt erzählt, wo ihm regelmäßig leere Konservendosen und Bierflaschen untergejubelt werden, im Regal extra für ihn deponiert und in Position gebracht, um ihn zu terrorisieren. So wie es auch die alte Nachbarin tut und überhaupt so gut wie alle Mitmenschen.

Es ist traurig und bewegend, eine Mutter im Zustand eines schweren postnatalen Schubes mit ihrem Gewissen kämpfen zu sehen, derweil sich der Mann mit Hilfe eines befreundeten Pärchens um den Windelscheißer kümmern muss, für den sie nichts empfinden könne.
Und es tut gut, ihre Gewissensbisse mildern zu können mit gutem Zureden, Verweis auf ihre Krankheit und Zerstreuung ihrer Schuldgefühle. Zumal ihr fast täglich vorbeikommender Mann ein rechter Gefühlstrampel zu sein scheint, ein Gemütsmensch der unbeschwerten Sorte.

Es ist rührend, die Fotos einer Forensik-Patientin zu bewundern, die da ihren kleinen Sohn im Kreise einer Pflegefamilie zeigen, ihre Vorfreude zu teilen, wenn ihre Augen in Erwartung eines baldigen Besuchstermins ihrerseits bei demselben zu leuchten beginnen.
Und es tut weh, sie bei ihrer Rückkehr nach kurzer Begeisterung mit erloschenem Blick und verhärmten Zügen in sich zusammengesunken und gekrümmt über einem prallvollen Aschenbecher wiederzufinden.


Sintram

Es erschreckt, die selbstzerschnittene Brust eines Künstlers aus der Ex-DDR präsentiert zu bekommen, und es ist zugleich ein nicht unerheblicher Vertrauensbeweis.
Er spielte mir hochinteressante Bands aus Sozialismustagen auf seinem eigens mitgebrachten CD-Player vor und erzählte mir allerlei Schauriges und schier Unvorstellbares von seinen Gefängnisaufenthalten in Folge gescheiterter Fluchtversuche, eigentlich war er ja ein Held, nur leider ein gebrochener.
Jede kleine Krise löste einen Anfall von Selbstverletzungen bei ihm aus, worauf er ein paar Urlaubstage auf der Geschlossenen verbringen durfte.

All das stellte alles in allem eine Bereicherung dar für mich, ich lernte, die Welt mit ihren Kategorien von gut und böse, gesund und krank, normal und verrückt mit anderen, geöffneten Augen zu sehen und begreifen. Denn derlei Begrifflichkeiten sind relativ, nichts weiter, beliebig und je nach Zeit und Umstand veränderlich.
Bei genauer Betrachtung regieren in der Tat die Verrückten die Völker, ihre Normalität ist lediglich sanktionierte Perversion, ihr Wahn legitimierte Gemeingefährlichkeit.

Irgendwann aber war der Punkt erreicht, an dem die vielschichtigen Narben an den Handgelenken der Tischnachbarin und ihr Vortrag über den Auferstandenen, ihre Errettung und seine Kraft der Heilung, die sie mit lauter Stimme über die Tische predigte, einen Grad innerer Abstumpfung und Gleichgültigkeit in mir auslösten.
Langsam erlosch das Interesse an der Not meiner Mitpatienten. Ein dumpfes Gefühl ohnmächtiger Leere machte sich in mir breit.

Kam ein vollkommen abgedrehter Neuzugang hereingestolpert, rang mir seine Wirrnis lediglich ein bitteres Lächeln ab. Es gab keine noch so abstrusen Berichte mehr, die mich fasziniert oder weiter interessiert hätten.
Diese Welt ist ein Irrenhaus, das mit Sicherheit, diese Gesellschaft eine mörderische Diktatur des Widersinns, und im Bezirkskrankenhaus sammeln sich deren Opfer, werden angeschwemmt wie Treibholz, aufgelesen wie Schiffsbrüchige, zusammengefangen wie streunende Hunde.

Von im Gros bemühten und liebenswerten Schwestern und Pflegern werden sie halbwegs hochgepäppelt oder je nach dem heruntergebracht, um draußen genau die Umstände vorzufinden, die sie hierher befördert haben. Gebrandmarkt mit dem scharlachroten Buchstaben P wie Psychiatrie, zugedröhnt mit Psychopharmaka, paralysiert mit Antidepressiva.
Und alles geht den gewohnten Lauf wie bisher, den Bach runter und ins Verderben. Es gibt keine Hoffnung.

„Mein Mann sagt, ich sei zu dick. Aber ich mag das so. Mein Mann selbst ist nämlich ein dürrer Hering. Er ist an den Hüften so spitz wie an den Schultern, das gefällt mir nicht, wenn ich ihn so spüre...“
Irgendwann ist der gute Wille erschöpft, derlei laut vor sich hin gebrabbelte Selbstgespräche mit Humor abzuschmettern. Sie verderben einem die Morgenzigarette. Jedes Lachen hat einmal ein Ende.

Dann ist es Zeit zu gehen.

Sintram

In der Tagklinik

Ein halbes Jahr ist seitdem vergangen. Trotz äußerster Kraftanstrengung war es mir nicht gelungen, eine Bleibe für uns zu finden, in der ein unbehelligtes Zusammenleben möglich gewesen wäre. Mein Schönwetterfreund war über Nacht zum Feind geworden und ich erneut in eine Depression gesunken.

Die Tagklinik erschien mir wie der rechte Ort zur Vorbereitung auf das weitere Leben. Ich befand mich tagsüber in einem Schutzraum, in dem ich zu mir kommen und in Ruhe über weitere Schritte nachdenken konnte. Diesmal sollte ich mich nicht irren.

Schon nach einer Woche war ich stabil genug, mein Neuroleptikum abzusetzen.
Der fest gefügte und überschaubare Ablauf verschiedener Therapien, das Eingebundensein in eine stabile Gruppe, die unaufdringliche Betreuung durch das Personal, die Ruhe des Hauses, all das richtete mich auf und gab mir Selbstvertrauen zurück. War es nun Mal-, Musik- oder Beschäftigungstherapie, Gesprächsgruppe, gemeinsames Kochen, Sport und Ausflüge, aus allem vermochte ich Kraft und Ruhe zu schöpfen.
Ich wurde Tavor los und reagierte ohne größere Nebenwirkungen auf mein neues Antidepressivum. Ich sprach gut darauf an, ein nagelneues Produkt noch in der Testphase, nun lebte ich also auf als Versuchskaninchen.
Der leitende Arzt war relativ jung, umgänglich und humorvoll, und es gelang mir tatsächlich wieder auf die Beine zu kommen.

Das Gebäude kannte ich bereits.
Bei meinem ersten Klinikaufenthalt vor vier Jahren hatte ich mich hier drin durch die Wachtherapie gequält. Der Rundbau mit kleinem Innenhof verwirrt mich auf Grund seiner ungewöhnlichen Architektur noch immer bisweilen. Es dauert eine Weile, bis ich die kürzesten Wege gefunden habe.
Mittags sitze ich im Hof unter dem großblättrigen Baum, der seitdem ein gutes Stück gewachsen ist und schönen Schatten spendet. Hier, wo ich mir vor Jahren zwischen drei und vier Uhr morgens die Seele aus dem Leib geweint habe, genieße ich jetzt meinen Mittagsschlaf, im Stuhl zusammengesunken.
Eine Ewigkeit scheint mir dazwischen zu liegen. Damals war ich Neuling. Schulanfänger sozusagen. Nun bin ich reif für den Übertritt.

Heute weiß ich, was gespielt wird. Mein Misstrauen gegen die Therapeuten ist verschwunden. Sie sind auch nur Menschen, und für gewöhnlich gute dazu. Ob sie sich ihren Idealismus bewahren können, sei dahingestellt. Aber es gibt mit Sicherheit ödere Berufe.

Das Eingebundensein des Betreuungspersonal in die Gruppe ist sehr fruchtbar. Die Distanz zwischen Gesunden und Kranken schwindet, das Gefühl, Aussätziger und Problemfall zu sein, weicht im täglichen Umgang miteinander der Erfahrung, als Mensch und Individuum ernst genommen und geachtet zu werden. Das tut gut.

Natürlich bleibt der unüberwindliche Graben derjenigen, die in der Hölle hocken und derer, die von oben hinunterschauen, aber selbst der tiefere Einblick macht sie zu Mitwissern und Verbindungsleuten.
Wir Kranken ändern ihre Sichtweise des Lebens. Sie sind gezwungen, nachzudenken und zu hinterfragen. Und sie wissen, dass die Wand zwischen ihnen und uns aus Glas ist. Zerbrechlich und dünn. Schon morgen könnten sie theoretisch die Seiten wechseln.
Wir Geschlagenen hingegen werden das nie mehr tun können. Das Stigma der Depression ist keine äußerliche Tätowierung. Unser Brandmal ziert die Seele. Unsichtbar, aber umso unauslöschlicher.

Die dicke Türkin plaudert mit der Putzfrau. Ich hab beide lieb gewonnen. Einfache Menschen ohne Falsch.
Der frisch geschiedenen Mutter geht es immer noch dreckig, aber etwas besser. Ihr Mann hat ihr die Kinder entfremdet und weggenommen. Sie hat meine Anteilnahme.
Der manische Computercrack schwärmt vom U2 Konzert.
Irgendwer spielt Gitarre, und das gar nicht schlecht.
Die jungen Mädchen hier oben sind schön, zu schön offenbar für irgendwelche Schweinehunde, deren Verbrechen sie hierher befördert hat.

Wenn ich mich abends auf mein Rad schwinge, bin ich redlich erschöpft. Ein Arbeitstag liegt hinter mir.

So verbrachte ich die Wochen im wohl tuenden Rhythmus eines geregelten Ablaufs. Meinen leidigen Vermieter sah ich nun als solchen.
Ich entschied mich, fürs erste zweigleisig zu fahren. Eine Option war die Teilnahme an einem einjährigen Wiedereinführungsprojekt in den Arbeitsalltag im Rahmen einer sozialen Druckerei. Dazu freilich war ein Umzug innerhalb der Stadt unvermeidlich.
Die zweite war die Rückkehr in mein Elternhaus zu meinem vergreisten Vater, um dessen Betreuung zu übernehmen. Die nächsten Wochen würden mir eine Entscheidung abverlangen.

Bis dahin nutzte ich meine Zeit. Meine geliebte Frau war inzwischen ebenfalls direkt aus dem Bezirkskrankenhaus in eine Tagklinik gewechselt. Das Modell der therapeutischen Betreuung untertags mit der Rückkehr in das gewohnte Umfeld über Nacht und an den Wochenenden vermied den Effekt des Käseglockengefühls, das ein stationärer Aufenthalt zwangsläufig mit sich bringt.
Die Bewährungsprobe insbesondere an den Wochenenden beinhaltete zugleich die Möglichkeit zu einer Art Standortbestimmung. Die Tagklinik selbst mit ihrer Struktur war durchaus mit einem Arbeitsplatz vergleichbar. Und gearbeitet wurde in der Tat.

Durch die Konfrontation mit der Problematik anderer, überwiegend weiblicher Gruppenmitglieder, war ich ständig gefordert. Innerhalb gruppendynamischer Prozesse, im Verlauf derer sich langsam Unbefangenheit und Freiheit, ja eine Art Vertrauen entwickeln konnte, wuchs nicht nur das Gemeinschaftsgefühl, sondern entwickelten sich positive und solidarische Kräfte, die bei den einzelnen Teilnehmern zum Teil erstaunliche Fähigkeiten freisetzten und zu Tage brachten. So wuchs das Selbstvertrauen und schwand die Selbstverachtung.

Es wurde also viel geredet, erzählt, geweint und gelacht, wobei mein Galgenhumor keine unwesentliche Rolle spielte. Ich war rasch integriert und allgemein beliebt. Zum einen betrachtete ich die Therapeutinnen trotz des üblichen „Sie“ als Gegenüber und nicht als Autoritätspersonen, was zum Teil schon mal zu verbalen Schlagabtauschen führte, zum andern ließ ich keine Gelegenheit aus, die Depressiven als besondere Menschen in einer Ausnahmestellung hervorzuheben.
Insbesondere mit der schwangeren Gruppenleiterin, die es immer wieder mal mit dem therapeutischen Ansatz versuchte und mir mit auffallend viel Kritik begegnete, kam ich immer wieder mal ins Gehege.
Nach zwölfjährigem Zusammenleben mit einer Diplompsychologin fand sie mich allerdings mit allen Wassern gewaschen.

Schließlich verdankte sie es dem werdenden Leben in ihrem Leib, dass ich irgendwann nicht mehr auf ihren Konfrontationskurs einging und ihr beizeiten Recht gab, ja sie sogar bisweilen und bei Gelegenheit mit Anerkennung bedachte, worauf ich fortan mit zurückhaltendem Respekt von ihr behandelt wurde.
Sie hatte ganz nebenbei durchaus ihre Erfahrungswerte und Führungsqualitäten.


Sintram

Mit den anderen Therapeutinnen hatte ich keinerlei Probleme, sie fanden meine gewagten Theorien über die Depression eher interessant und lachten außerdem gern über meinen schwarzen Humor.

Ich schwor also meine Leidensgenossen und Innen als Auserwählte und außergewöhnliche Menschen in einer vollkommen aus dem Lot geratenen, kaputten und kranken Gesellschaft ein und machte ihnen immer wieder klar, dass sie von ihren Partnern, Kindern, Verwandten, Freunden und Bekannten keinerlei Verständnis erwarten dürften, geschweige denn von ihren Arbeitgebern.

Es war mir wichtig geworden, allen irgendwie zu vermitteln, dass eine Rückkehr in ihr vorheriges Leben sprich die Normalität für niemanden von ihnen mehr möglich, ja nicht wünschenswert wäre, da sie eben genau diese Situation dahin gebracht hatte, wo sie sich gerade befanden, in der gemäßigten Klapse nämlich.
Und ich wurde verstanden.
Da es mir außerdem spielend gelang, so ziemlich jede Stimmung und Gemütsverfassung erspüren und nachvollziehen zu können, sprich die Löcher, in denen sich meine Artverwandten gerade befanden, gelassen von unten betrachten konnte, mochten mich bald alle gut leiden.

·      Mein persönlicher Durchbruch gelang mir, als ich im Gruppengespräch offen und ungeniert über meinen Suizidentschluss sprach. Ein heikles Thema übrigens, dass die Betreuer fürchten wie der Teufel das Weihwasser aus Angst vor dem möglichen Nachahmungseffekt.
·      Interessanterweise war es aber gerade die Nüchternheit und zwingende Logik, mit der ich meine Absicht erklärte, die bei etwaigen Kandidaten Bestürzung und Nachdenklichkeit auslöste.
·      Sie sahen sich gezwungen, ihre eigenen eher diffusen Beweggründe noch einmal zu überdenken und erschraken vor dem Gedanken, einmal dahin zu gelangen, wo ich mich gerade befand.
·      Kurzum, ich hatte eine heilsame abschreckende Wirkung.

Die Wochenenden waren gefüllt durch die Besuche meiner geliebten Frau. Langsam und schrittweise bereiteten wir uns auf unser zukünftiges Zusammenleben vor, nachdem wir uns ein Jahr lang –bis auf drei Wochen- nur an den Wochenenden und oft wochenlang gar nicht gesehen hatten.
Natürlich fürchteten wir uns bei aller Vorfreude vor dem Alltag, aber jede gemeinsame Stunde machte uns Mut. Wir stritten so gut wie nie und waren uns meistens einig in Urteil und Empfinden.
Die Nähe gab uns Halt und Sicherheit, wir stärkten einander und richteten uns auf. Es geschah das genaue Gegenteil der therapeutischen Unheilspropheten: Unsere gemeinsam erlebte Krankheit schwächte und gefährdete uns mitnichten, sondern gab uns das unschätzbare Gefühl und Wissen, nie und nirgends allein zu sein mit unserer Not und Pein.

Geheimnisvollerweise verlor unsere so vereinigte Seelennacht an Macht und undurchdringlicher Bedrohlichkeit. Außerdem war da kein Druck, anders, besser, stärker, funktionstüchtiger und gesünder sein zu müssen als wir es nun mal waren.
Wir erwarteten nichts voneinander und von uns selbst als füreinander da zu sein in jeder Verfassung und Lebenslage.
Das gelang uns wie selbstverständlich.

Wir waren glücklich miteinander.