Die Reise durch das schwarze Loch

Begonnen von Sintram, 05 Juni 2010, 15:26:01

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Sintram

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Und wieder ist es Nacht. Am helllichten Tag fiel sie vom Himmel, der sich randvoll mit leeren Versprechungen in lichtes Blau kleidet, als wolle er die Dunkelheit mit gleichgültiger Arroganz ignorieren. Teilnahmslos leckt die Märzsonne an den verkrusteten Schneemassen, die bröselig und zu Eisenglas erstarrt vor sich hinschmelzen, ohne sich um die Ahnung des kommenden Frühlings zu kümmern. Ewiger Winter sind sie und werden sie bleiben für immer.
Die Stare hängen wie Trauben an den Vogelhäuschen, ihr Hochzeitskleid glitzert hilflos und befremdlich in der weißen Wüste erstarrten Lebens. Hoffnungsfroh waren sie zurückgekehrt aus dem fernen Afrika, um die Heimat feindselig und trostlos vorzufinden, die ihnen nichts zu bieten hatte zum Empfang als Kälte, Hunger und Überlebenskampf.

Verheißungsvoll ist die Hoffnung, lockend und verführerisch. Klammheimlich schleicht sie sich heran, schmeichelnd und flüsternd, wirft Traumbilder voll beglückender Schönheit in Geist und Sehnsucht des von ihr Befallenen, verleitet ihn zärtlich dazu, sein erschöpftes Haupt aus dem zähen Staub der Trübsal zu erheben, verzaubert seine Züge und kitzelt ein scheues Leuchten in seine zu Tode ermatteten Augen, lässt zitternd den zarten Keim einer blühenden Zukunft aus dem gefrorenen Boden vergessener Träume sprießen und nährt den Verlorenen mit dem trügerischen Licht eines lebenswerten Morgen.

Doch erst wenn sich der Unglückliche erhoben hat, erst wenn er erste schwankende Schritte tut, erst wenn er schüchtern blinzelnd zu glauben beginnt, an die Wendung zum Guten, an das Vergehen von Leid und Unglück, ja an Heilung und die Chance, doch noch und wider alles Wissen und alle Erfahrung das Wunder von Glück und Freude zu kosten, erst wenn er sich gutgläubig und arglos in den Daseinskampf und die tägliche Unbill des Lebens zurückgewagt hat, erst wenn er den nicht mehr rückgängig zu machenden Entschluss gefällt hat, es noch einmal zu versuchen, ja erst wenn sein Lebenswille zurückgekehrt und wiedererwacht ist, erst dann, wenn es kein Zurück mehr gibt für ihn in die gnädige Losgelöstheit und die taube Leichtigkeit schauernder Resignation, erst dann beginnt das Trugbild zu flimmern, zu verschwimmen, sich aufzulösen ins Nichts einer Fata Morgana.

Erst dann zeigt die Hoffnung ihr wahres Gesicht stetig wiederkehrender Illusion und zerfallender Utopie, erst dann bleckt sie die strahlenden Zähne nackter Wahrheit zu einem höhnischen Grinsen und zerschmettert den wieder zum Leben Erwachten mit der barbarischen und rohen Gewalt eines Blitzes, der den mächtigsten Baum spaltet von der Krone bis in die Wurzel.
Erst wenn der Wiedererstarkte fähig ist, erneut Verzweiflung, Kummer, Schmerz und Leid zu spüren und fühlen, dann und erst dann taucht die schwindende Hoffnung den Bemitleidenswerten bis über den Scheitel in den dunklen, schwarzen, verschlingenden Schlund der Hoffnungslosigkeit, um heimlich, unbemerkt und mit unersättlichem Willen nach Unsterblichkeit den Keim ihrer Wiederkunft ins Zentrum der Nacht zu betten, nie zur Ruhe kommend, getrieben und von unbändiger Dynamik vorangepeitscht, unbesiegbar und ihres Triumphes gewiss, denn immer wird sie bleiben, wiederkehren, auferstehen, die grausame erbarmungslose Marter der Hoffnung.

Und gleich sie uns auch quält und peinigt bis aufs geronnene Blut, klammern wir uns doch an sie und halten verbissen an ihr fest, wie Verfallene und Hörige, ja wie Süchtige, unfähig die Folter ihres Kommens und Gehens zu ertragen und noch viel weniger in der Lage ohne sie zu leben.
So feiern wir denn ihre spärlich sporadischen Erfüllungen wie große Siege und verherrlichen ihre bloße Existenz als Wunder, indes wir ihr zahlloses Trügen, Scheitern, Erlöschen und Sterben verdrängen und totschweigen allüberall und zu allen Zeiten.

Auch die Stare hoffen. Die Hoffnung lässt sie unverdrossen lärmen und schnarren in den kahlen Bäumen, die Hoffnung auf die unbändige Macht der Frühlingswogen, die den versteinerten Boden aufbrechen und Samen freilegen werden, sie zu nähren. Jeder von ihnen hofft für sich, willens und fest entschlossen sich zu paaren und Nester zu bauen, um in der mühseligen Aufzucht seiner Jungen dem ehernen Gesetz des Lebens Tribut zu zollen, jeder einzelne hofft und vertraut, gleich ob er diese Tage schauen wird oder nicht. Das Leben hofft weil es muss um zu überleben.

Ich aber bin des Hoffens müde. Leid bin ich die Hoffnung, so unendlich leid.
Zu oft hat sie mich betrogen, an der Nase herumgeführt, zum Narren gehalten. Zu oft blendete mich ihr goldener Horizont, zu oft täuschte mich ihre lockende Verheißung. Zu oft schwand sie vor meinen Augen als utopisches Trugbild. Zu oft zerplatzte sie wie die Seifenblase eines Traumes. Zu oft starb sie mir unter den Händen weg.
Ich erkläre die Hoffnung für tot. Ein für allemal gestorben ist sie für mich. Ich habe sie begraben. Ich schmücke ihr Grab. Bewahre ihr Andenken. Erlöst bin ich von ihr. Nimmermehr mag sie mich aus dem süßen Nichts der Hoffnungslosigkeit reißen. Nimmermehr mich enttäuschen. Ich habe sie aufgegeben.

Ohne Hoffnung kann der Mensch nicht leben, sagt man. O doch, er kann. Mag sein, dass er nicht überleben wird. Aber leben wird er, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Nichts wird ihn mehr aus der Ruhe bringen, nichts ihn aufschrecken. Kein Untergang und keine Katastrophe, keine Überraschung und keine Rettung. Alles wird er hinnehmen, gleichwertig bedeutungslos. Er ist frei.

Sintram

Umsonst ist der Tod, er kostet das Leben

Wir sind Betrogene. Fiebernd schlüpfen wir aus unseren Käfigen und Gefängnissen, berauscht vom Gefühl wiedergewonnener Freiheit, zerschunden und bucklig von den Jahren unserer Gefangenschaft, den Kammern erdrückender Enge, die uns in ein Schattendasein innerer Emigration zwängten, mit weitausholenden Schritten stoben wir davon- und rennen blindlings in Sackgassen und Fallgruben. Vor Augen nur den Tod, den sicheren Untergang.

Der süße Geschmack der Freiheit wird rasch zur bitteren Galle. Der leuchtende Weg des Glücks verschwindet in bleierner Finsternis. Keine Ungeheuer sind es, die uns den Weg versperren, keine wilden Bestien, die uns in die Ausweglosigkeit treiben, keine Dämonen, die uns in ihre Fallen locken. Nein, es sind Menschen. Ganz gewöhnliche Menschen. Harmlose Zeitgenossen. Durchaus liebenswerte Charakter. Bemüht womöglich sogar.
Für uns aber werden sie zu Scharfrichtern. Weshalb? Etwa weil sie böswillig sind, rücksichtslos, selbstsüchtig, gewissenlos und verdorben? Nein. Weil sie gesund sind.

Ihre Lebenstüchtigkeit ist es, die sie für uns zu Anklägern macht. Ihr gesunder Egoismus, ihre Vernunft, ihre Zielstrebigkeit oder zumindest Fähigkeit zu funktionieren, all das was sie in dieser Welt, in dieser Zeit, in diesem Land und dieser Gesellschaft zum Leben und Überleben brauchen, anwenden und einsetzen, kurzum ihre Normalität ist es, die uns zum Tode verurteilt.

Ihr Überlebenswille ballt sich über uns zusammen wie eine dräuende Gewitterfront, ihre Energie verschüttet uns wie eine Schlammlawine, ihre Tatkraft zermalmt uns zu Staub. Und es gibt kein Entrinnen. Denn sie sind überall.
Ihr Leben, das sie recht und schlecht beherrschen, bringt uns den Tod. Sie aber dulden keinen Tod in ihrer Nähe. Unser Sterben, also wir machen ihnen Angst. Wir erschrecken sie. Denn wir verkörpern das Nichtvorhandensein dessen, was ihre Existenz bedeutet und ausmacht. Sie können leben, irgendwie, und wir, wir können nur sterben. Genau das aber ist es, was sie niemals wollen, was sie verdrängen und aus ihrem Leben verbannen. Wir sind Verbannte.

Wir suchen und ersehnen das, wovor sie sich am meisten fürchten: Den Tod. All ihr Bemühen und ihr Einsatz, uns am Leben zu erhalten, ist in Wahrheit das Trachten nach Vergewisserung, dass dieses Leben lebenswert sei, sinnvoll und schön. Je mehr sie um uns kämpfen, desto weniger sind sie gezwungen sich der Frage zu stellen, ob das, was sie uns vermitteln und beibringen wollen, nämlich das Leben, denn überhaupt einen Kampf wert ist. Weil einzig und allein die Tat und Tatsache uns am Leben zu erhalten Beweis genug ist für sie, auf der rechten Seite sprich der Lebensbejahung zu stehen, sei diese nun gerechtfertigt oder nicht. Denn was sie anderen zu retten versuchen, muss eine Rettung wert sein um der Rettung Willen.

Wer aber nun das Leben als solches in Frage stellt, ist nach ihrem Ermessen fraglos im Irrtum. Ihr Leben selbst ist ihr Recht auf Leben, sei es nun Zwang oder Mühsal, es will um seiner selbst willen gelebt sein mit allen verfügbaren Mitteln und aller Kraft die sie aufzubringen in der Lage sind. Warum das nun so ist, wissen sie selbst nicht zu sagen.

Es ist nun mal so. Der Mensch will leben, das ist gesund und das Leben bis hin zur Tötung aus Notwehr erhaltenswert und eine solche Tat somit zu rechtfertigen. Der Mensch aber, der sterben will, ist in ihren Augen krank und bedauernswert. Seine Gesinnung ist höchstens dann entschuldbar, wenn sein Tod die Erlösung von unerträglichem Leiden bedeuten würde, gerechtfertigt ist sie jedoch damit nicht. Unerklärlich bleibt ihnen die Todessehnsucht, bedrohlich und rätselhaft.

Uns aber ist der unerschütterliche Lebenswille unerklärlich, bedrohlich und rätselhaft. Die ersehnte Erlösung von den unerträglichen Leiden, die uns das Leben bereitet, bedarf viel weniger einer Entschuldigung und Rechfertigung als sie vielmehr zwingende Logik und Konsequenz für uns bedeutet.

Ich für meinen Teil bin einer dieser ungeliebten Fremdkörper im Organismus des Lebens. Das Leben um seiner selbst willen ergibt keinerlei Sinn für mich. Es ist mir zutiefst suspekt und fremd. Ich erlebe es als feindlich und feindselig. Es sei denn, ich entmachte es durch das, was ihm im Grunde zutiefst innewohnt und Teil seines Wesenskerns ist: Bedeutungslosigkeit. Wichtigkeit erschlägt mich. Sorge raubt mir den Atem.

Das Leben um seiner selbst willen aber bedeutet nichts als Sorge. Also kann ich Sorglosigkeit nur durch Nihilierung des Lebens um seiner selbst willen sprich des Überlebenskampfes erlangen. Sorglosigkeit macht frei. Die Freiheit jenseits der sogenannten Daseinsbewältigung aber ist die einzig wirkliche Form von Freiheit, da sie nicht an das Leben gefesselt ist. Die letzte Erfüllung und Vollendung der Freiheit ist somit der Tod. Das Leben ist Versklavung an den Überlebenskampf, nichts weiter. Und der Tod die einzige Erlösung davon.

Dies ist meine Erkenntnis, gewonnen aus Erfahrung. Die Gesunden nennen mein Denken krank. Aber ist ihr Wille, um jeden Preis überleben zu wollen, denn wirklich gesund? Oder ist er nur die Ausgeburt ihrer Angst vor dem Tod? Was macht ihre Einstellung wertvoller und erstrebenswerter als meine?
Sie wollen mich dazu bringen leben zu wollen wie sie, um mich als gesund, wiederhergestellt und geheilt entlassen zu können. Könnte ich nicht mit dem selben Recht versuchen sie dahin zu bringen sterben zu wollen wie ich?

Um sie wohin zu entlassen? Nun, in die Ahnung, dass sie im Irrtum befindlich sein könnten. Denn meines Wissens diktiert der Sieger die Bedingungen. Und der Tod ist allemal Sieger über das Leben, zumindest über das irdische. Denn wir sind alle sterblich und sterben auch irgendwann. Ausnahmslos und ganz gewiss. Jeder Sieg im Überlebenskampf bedeutet also lediglich Lebensverlängerung und Aufschub des Unausweichlichen.

Reicht das, um all den alltäglichen Wahnsinn zu rechtfertigen?

Sintram

Der ganz normale Wahnsinn

Die Funktionstüchtigen sind es, die mich zu Schrott degradieren, mag ihr Rädchen auch eine Vernichtungsmaschinerie globalen Ausmaßes am Laufen halten, sie drehen sich. Das genügt, um ihnen das Lebensrecht zu verpassen, das sie mir, dem Durchgedrehten, absprechen.
Ich bin auf der anderen Seite der Glasglocke, hinter der sie sich verbergen, stehe ungeschützt jenseits der unsichtbaren Mauer, hinter der sie sich verschanzen. Vor den Befestigungsanlagen ihrer Seelenburgen liefern sie mich dem Tode aus, teils mit Gewissensbissen, teils mit selbstgerechter Grausamkeit.

Wo lebe ich? Wo befinde ich mich? Das Dachkämmerchen, das mir in den ersten Wochen Ort der Zuflucht und Sicherheit zu sein schien, verwandelte sich Woche für Woche, Tag für Tag und Stunde um Stunde in eine Gefängniszelle, einen Hungerturm, einen Todestrakt. Und nun, da meine Nichte neben mir eingezogen ist, um mir durch die Pappwände den Schlaf zu rauben, da mich Todesschreie, Explosionen und Schüsse billiger DVD- Produkte bis in die frühen Morgenstunden traktieren und demoralisieren, liege ich wehrlos ausgeliefert in einer raffinierten Folterkammer, ein Opfer subtilen Psychoterrors erster Güteklasse.
Denn es wäre ein Verstoß gegen die Menschlichkeit und ist somit ein Ding der Unmöglichkeit, diesem spätpubertierenden infantilen Riesenbaby im Körper einer Frau und stets am Rande der Hysterie ihren letzten und einzigen Hort der Geborgenheit zu rauben durch Klopfzeichen, Beschwerden und höfliche Bitten, die ohnehin Opfer kurzlebigen Entgegenkommens sind. Außerdem: Auch gedämpfte Detonationen dringen in den seichten Schlaf, auch unterdrückte Schreie schneiden ins Unterbewusste.
Und leider bin ich auch unfreiwilliger Ohrenzeuge ihrer Verzweiflungsanfälle, wenn sie sich -unverstanden und ungerecht behandelt oder auch nicht- die Augen aus den Höhlen weint. Leider nicht ins Kissen, wie sich ´s eigentlich gehört. Nein, durchs Megaphon. Mitleid entwaffnet mich.

Die Normalen um mich her sind vollkommen irre. Schleiche ich in die Küche, sozusagen als Flurgang, laufe ich meinem Neffen in die Arme –o nein, ich werde keine Namen nennen- einem altklugen gefühlblockierten jungen Mann, der keine Gelegenheit auslässt, um mir mit einer bissigen Bemerkung einen Dolch in den Rücken zu stoßen. Gut versteckt unter dem Deckmäntelchen spöttisch wohlmeinenden Humors, ein übles Erbe seines nichtsnutzigen Vaters, den er vergöttert, zumindest seit meine Schwester ihm nach jahrzehntelangem Martyrium den Laufpass gegeben hat.

Meine arme große Schwester. Chronisch überfordert, kontinuierlich am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit einem Fuß im Burn Out Syndrom, den Tinnitus im Ohr und die Erschöpfung im Gesicht, so hängt sie Abend für Abend mit schlaffen Wangen im Fernsehsessel.
Auf verlorenem Posten, ist sie dennoch mit betonhartem Willen entschlossen, diesem Chaos, das sich Familie nennt, den Schein einer harmonischen Ordnung überzustülpen. Und ihre Bälge ganz nebenbei nach allen Regeln der Aufopferungskunst zu Faulheit und Unselbständigkeit zu erziehen, um nur ja und um jeden Preis die fürsorglich mütterliche Kontrolle zu behalten.

Ihr zweiter Sprössling behandelt sie folgerichtig wie eine Dienstmagd. Seine respektlosen Unverschämtheiten erfüllen mich mit Abscheu, Empörung und Fassungslosigkeit, noch mehr aber entsetzt mich die devote Resignation, mit der seine Mutter dieselben schluckt.
Deeskalation. Ihr pädagogisches Zauberwort. Und nebenbei ein krisenfester Fulltimejob, denn eine Eskalation jagt die andere. Mir kommt immer wieder mal ein - etwas beschämend- anders geartetes pädagogisches Konzept in den mürben Sinn. Eine ordentliche Tracht Prügel. Taschengeldentzug. Wenigstens eine Ohrfeige. Ein unmissverständliches klares scharfes Wort. Aber derlei Anachronismen kennt die antiautoritäre Erziehung nicht.
Und das nicht ohne Grund. Geschlagene Kinder schlagen entweder selbst oder gar nicht. Wie auch immer, der machistische Chauvinismus, der sich wie ein Krebsgeschwür im Denken und Verhalten meines Neffen breit macht, ist auf jeden Fall mittelalterlich.

Eigentlich der verhängnisvollen Konstellationen genug, um den Alltag in diesem ganz normalen Wahnsinn, der sich Tag für Tag in monotoner Beharrlichkeit durch Geschrei, Heulen und Jammern, Türknallen und Kreischen manifestiert, zu einer Art Vorhölle geraten zu lassen.

Aber da gibt es noch die Krönung des Desasters, sozusagen die dunkle Macht im Hintergrund, die die Fäden in diesem Tollhaus zieht, weil sie die Mutter in der Hand hat wie keines der Geschwister. Der Erstgeborene, der lebensuntüchtige, hilflose, verzweifelte junge Mann, wie seine Mutter mit dem erbitterten Zorn einer Bruthenne zu betonen nicht müde wird, in Wahrheit jedoch ein durchaus nicht ungefährlicher Soziopath, berechnend, empfindungslos, mit allen Wassern der Überlebenskunst gewaschen, andauernd in der Lage, auch außerhäuslich die Sache zu seinen Gunsten zu manipulieren, jeder Krankheitseinsicht bar, bis zum Äußersten fähig, seinen Leidensdruck zum eigenen Vorteil zu verwenden, suggestiv und meisterhaft getarnt mit der goldenen Rüstung des guten Willens, den aufzubringen ihn alle verfügbare Kraft kostet, so dass zur Umsetzung seiner beteuerten Vorsätze mit schier zwingender Logik dieselbe fehlt. Harmlos und kumpelhaft im Auftreten, fast charmant, gelingt es ihm glänzend, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und alles und jedes andere Geschehen im Raum tot zu quasseln.

Es ist nicht die Tatsache, dass ich die Mitbewohner um mich her kenne, meine Schwester seit meiner und ihren Nachwuchs seit ihrer Geburt, die mich lähmt. Nicht der Umstand, dass ich diese jungen Erwachsenen als entzückende Kleinkinder erleben durfte, nicht die Erinnerung, mit ihnen gespielt, gebalgt, getobt und gescherzt zu haben machen mir ein Eingreifen unmöglich. Nicht die Vergangenheit zwingt mich zur Tatenlosigkeit.

Ebenso wenig hindert mich die Wirklichkeit daran, dass ich jedes dieser Individuen - insbesondere meine Schwester- für sich genommen als liebenswerte Zeitgenossen empfinde, gegen diesen Zustand permanenter Verzweiflung vorzugehen mit der geballten Ladung meiner Menschenkenntnis und Lebenserfahrung.

Nein. Nicht das Gestern und nicht persönliche Befangenheit zwingen mich zum schweigenden Erdulden des Terrors ohne Hoffnung auf Veränderung geschweige denn Verbesserung. Es ist schlicht und ergreifend so, dass eine Einmischung meinerseits unerwünscht ist, weil dieser Irrsinn nämlich tatsächlich funktioniert.

Bei keinem Beteiligten ist der Leidensdruck groß genug, um auszubrechen aus diesem Teufelskreis. Der Vorteil, den jeder für sich dabei herausholt, hingegen durchaus, um das Unerträgliche zum Unvermeidlichen zu stilisieren und das Zerstörerische zum Produktiven umzufunktionieren.

Kurzum, alle sind im Grunde leidlich zufrieden mit ihrer Situation, der Raum für Selbstbehauptung und Bedürfnisbefriedigung ist groß genug, um nicht ganz auf der Strecke zu bleiben.

Sintram

Im Gegenteil, jeder holt sich, was er kriegen kann. Das genügt ihnen allen. Jedem für sich.
Bei eingehender Betrachtung sind sie nichts als ein Spiegel dieser irrsinnig gewordenen Gesellschaft, ein verzerrter und überzeichneter vielleicht, dennoch ein deutliches und klar umrissenes Abbild dieser krank und seelenlos gewordenen Welt.
     
Die Pflegetochter als Fünfte im Bunde versteht es sehr gut, sich mit der notwendigen List und Teilnahmslosigkeit und bisweilen nicht ohne verstohlene Erheiterung in den Drehwurm dieses Narrenkarussells einzugliedern. Sie hat endlich ein Zuhause, Geschwister, eine Leihmutter, die ihr Aufmerksamkeit und Fürsorge widmet, ein eigenes Zimmer und die lang vermisste Sicherheit bürgerlicher Existenz. Ein triftiger Grund, nicht zuletzt die Eifersuchtsattacken meiner Nichte zu ertragen.

Zu guter Letzt winselt da noch der obligate Hund, ein tollpatschiges schwarzes Kalb, tierheimgeschädigt und verhaltensgestört, was jeden seiner Freigänge mit ihm zum Abenteuer und Nervenkrieg macht, um das gepflegte Chaos stimmig abzurunden.

Fehlt noch die Untermieterin, eine junge Türkin. "Die sind ja so laut," sagt sie einmal zu mir, "ich bin ja den ganzen Tag weg, aber du, wie hältst du das nur aus?" Gute Frage. Wie meinte noch mein Freund beim Umzug? Die sind doch ganz nett, wenn sie nicht grade streiten. Das Problem bei der Sache ist nur, dass sie immer und unablässig am Streiten sind, und frag nicht wie.

Ein Abziehbild. Eine billige Kopie. Ein lausiges Remake. Schlechte Darsteller. Dramaturgisch banal. Das Original war wenigstens existenziell. Kriegstraumatisierter Vater schlägt Kinder, ideologieverseuchte Mutter peinigt sie mit Psychoterror, Katastrophenehe, Geldnot, Angst, Gewalt, fünf verlorenen kleine Seelen kämpfen in einem Irrenhaus - ach was im Herzen der Hölle- ums nackte Überleben. Bei aller Tragödie, das hatte was.

Aber das hier... Eigentlich geht’s allen vergleichsweise blendend. Der versoffene Vater ist aus dem Haushalt verschwunden, es herrscht keine Gewalt, kein Krieg, keine chronische Angst. Die jungen Erwachsenen genießen Freiheiten, von denen ich nicht einmal zu träumen wagte. Und trotzdem machen sie sich gegenseitig das Leben schwer. Warum nur um alles in der Welt?

Andrerseits, das Schwesterherz gab sich lange Jahre mit der Nachahmung ihrer Eltern zufrieden. Mann geht fremd, säuft, schlägt und so weiter. Sie brach spät aus, offenbar zu spät. Der Kolateralschaden, den der Erzeuger bei dieser Bande hinterließ, scheint irreversibel sprich irreparabel.

Gott straft die Sünden der Väter bis ins dritte Glied. Steht irgendwo in der Bibel. Sieht ganz danach aus. Der Fluch dauert fort. Wer kann ihm entkommen und wie?
Aber es wäre zu billig, alles auf ihn zu schieben. Was mir am erschreckendsten erscheint bei all der hilflosen Analyse, ist der Gedanke, dass die einfach so sind wie sie sind. Aber so kann man doch um Himmels Willen nicht sein.

Oder etwa doch?


Sintram

Ein verbranntes Kind scheut das Feuer

Das Quäntchen zuviel. Immer ist es dieser eine letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Steht nicht geschrieben, dass Gott dem Menschen gerade so viel an Last und Leid auferlegt, wie er zu tragen in der Lage ist? Warum macht er gerade bei mir die Ausnahmen, die seine goldenen Regel bestätigt? Denn eins ist gewiss: Ich ertrage es nicht.

Stets werde ich über meine Kraft geprüft und versucht. Es ist ungeheuerlich, was ich bis zu diesem Punkt erdulden muss, es kostet mich alle Beherrschung und Selbstüberwindung, die ich aufzubringen willens und fähig bin, bis zum äußersten Punkt bin ich gefordert, angespannt und gequält, mit eisernem Willen bleibe ich stehen, wo ich hingestellt bin und tue alles Erdenkliche, um nicht zu fallen, bezwinge den Kummer, den Schmerz, die Not und die Angst, überwinde mich und alles Menschenmögliche, das es zu überwinden gilt, um endlich jenen Punkt zu erreichen, jenes Ziel, an dem alles erreicht, überstanden und erlöst ist, ja gut wird, friedlich und schön, an dem ich Aufatmen kann, loslassen, seufzen und ausruhen.

Und dann ist es da, das Menetekel, wie ein Fluch, ein unentrinnbares Los, jenes Quäntchen unvorhergesehenes Leid, ein kleines Missgeschick vielleicht, eine unbedeutende Verzögerung, ein Unglück oder einfach nur eine Widrigkeit, die zu besiegen mich am Anfang des Weges ein Augenzwinkern und Achselzucken gekostet hätte, nun aber mit vernichtender Wucht alle bisherigen Kraftanstrengungen und alle Mühsal vergeblich werden lässt und mich zerschmettert, auslöscht, niederstreckt.

Immer dann, wenn jene völlige Erschöpfung eintritt, dieses Ich kann nicht mehr, wie gut, dass es überstanden ist, stellt sich heraus, dass es länger dauern, schwieriger werden, anhalten wird. Und alles was bleibt ist der endgültige Zusammenbruch.

Alle Kräfte sind aufgebraucht, die letzten Reserven verbrannt, der letzte Tropfen Wasser auf meiner Zunge verdampft, zu Tode erschöpft erreiche ich nach entsetzlicher Wanderung durch die Wüste das vermeintliche Ziel. Doch dieses verhöhnt mich mit grinsender Grausamkeit, das Wasserloch ist leer, die rettende Straße fortgespült, das bergende Lager verlassen. Und alles, was mir noch übrigbleibt, ist mich hinzulegen und ergeben auf den Tod zu warten.

Die Behüteten sagen, ich solle dem Leben trauen und wenn nötig auf ein Wunder warten, und weiß Gott das tue ich. Aber das Leben betrügt mich und das Wunder geschieht nicht, bis ich allen Glauben an das Leben verloren habe und alle Hoffnung auf ein Wunder aufgegeben, mich in mein Schicksal füge und aufgebe.
Erst wenn ich endlich gestorben bin, ja tot, zwingen sie mich ins Dasein zurück, mit unerbittlicher Beharrlichkeit nötigen sie mich erneut zu leben. Ein Leben, das ich hassen muss in der Gewissheit, seiner nie mehr froh werden zu können.

So war es immer und oft genug, um mich daran zu gewöhnen. Noch während ich also ums Überleben kämpfte, schloss ich damit ab, noch während ich rang, gab ich bereits auf. Das Wasserloch ist leer, was auch sonst? Die Straße verschwunden, na klar. Das Lager verlassen, logisch. Langsam aber sicher gewöhnte ich mich an die Vergeblichkeit des Seins ebenso wie ans Sterben. Und lebte gut damit.

Doch diesmal war alles anders. Ich war nicht allein. Zum ersten mal in meinem Leben war ich nicht allein. Das Alleinsein war zeitlebens meine einzige Erfahrungstatsache, meine empirische Basis, ich kannte sonst nichts. Ganz gleich mit wem ich zusammenlebte und wie lange meine Tage verbrachte, im Innern meines Herzens war ich stets vollkommen allein, unverstanden und verlassen.

Im Laufe der Zeit war mir die Einsamkeit zum Ort der Sicherheit geworden, zur Stätte der Zuflucht und Ruhe, in der ich –in scheinbar trauter Zweisamkeit lebend- mein eigenes verborgenes Leben lebte, im Geheimen und Unerkannten. Denn hätte ich dieses mein wahres Wesen, ja mein Ich, offenbart, es hätte mich dasselbe gekostet.

Nun aber war ein Mensch in dieses mein Refugium eingedrungen, ein Gegenüber, das mich durchschauen konnte, weil ich mich ihm offenbart und geöffnet hatte. Ich war der Liebe begegnet, der einzigen, großen und wahren, deren Erfüllung unendliches Glück bedeutet und deren Nichterfüllung unweigerlich den Tod.

Nicht der Liebe meines Lebens, sondern meinem Leben selbst, dem Menschen, in dem ich mich vollendet wiederfand und erst vollendet und vollständig wurde, der Liebe an sich, die ewig ist und immer und für immer sein will.
Ich war meiner Frau begegnet, die wahrhaftig meine Frau ist, für mich geschaffen und geboren, so wie ich für sie geschaffen und geboren bin. Meiner Frau, ohne die ein Weiterleben nicht undenkbar, sondern schlicht unmöglich ist, weil ich im tiefsten Wesenskern meines Selbst mit ihr verschmolz im ersten Augenblick der Begegnung.

Ich hatte den Glauben an ihre Existenz längst aufgegeben, gründlich und endgültig, als ich dies Wunder erfahren durfte, ja als es mir widerfuhr ohne meinen Willen und wider alle Erwartung und Erfahrung.

Was aber durchfährt den Todgeweihten, wenn er unerwartet das Leben schmeckt? Was kriecht aus seinem vergessenen Winkel hervor, erst leise und raunend, dann murmelnd und flüsternd, zuletzt mit klarer schneidender Sprache und gellenden Schreien? Es ist die Angst, das Gefundene, das nie erahnte und längst nicht mehr erhoffte Glück, das er geschmeckt hat und nun für immer schmecken will, wieder zu verlieren.

Was seinen endgültigen Tod bedeuten würde, nur ist es nunmehr kein gelassenes ruhiges Sterben mehr, sondern ein Verrecken in der unsäglichen Qual nackter und vollkommener Verzweiflung, das ihm bevorsteht, da er den Sinn seines Lebens gefunden und seine Bestimmung erlangt, nur um sie endgültig zu verlieren.

Mächtig ergriff diese Angst Besitz von mir, peinigte mich bis aufs Blut. Schlich sich in meine Gedanken und Gefühle, besetzte mich und trieb mich in den Wahnsinn, Schritt für Schritt und unaufhaltsam.

Sintram

Mit fliegenden Fahnen in den Abgrund

Glück, Zufall, ein rettendes Eingreifen der Engel und nicht zuletzt die Macht der Liebe verhinderten die Verzweiflungstat meiner Frau. Nach einer Gattin und einer Lebensgefährtin werde ich sie fortan meine Frau nennen, da sie wirklich meine Frau ist und bleiben wird für immer.

Meine Frau also gestand mir ihren Entschluss im letzten Augenblick und nur wenige Stunden vor seiner Ausführung. Mit den vermaledeiten Tabletten, die ich zum Klo hinunterspülte, schwemmte ich meinen Lebenshass hinweg, vom Donner gerührt und in der Erschütterung des schweren Schocks.
Die Aufarbeitung meiner Vergangenheit und die Pein meiner Krankheit rückten in den Hintergrund. Nun galt es, das Leben meiner Frau zu retten, das auf Messers Schneide stand und auf der Kippe. Und ich wollte alles, was ich nur immer konnte, ja mein Leben, daran setzen dies zu vollbringen.

Also beendete ich meinen Klinikaufenthalt vorzeitig, um ihr denselben so rasch wie möglich zu gewährleisten, da es technisch und organisatorisch unerwünscht und unmöglich war, ein Paar gleichzeitig im selben Krankenhaus zu behandeln.
Alles geschah selbstverständlich im Einvernehmen mit meinem Psychiater, der mich ohnehin für geheilt betrachtete. Wir gaben uns regelrecht die Klinke in die Hand. Ich kehrte in meine Folterkammer zurück, sie in ihr Schmerzenshaus unter die Obhut der Ärzte, Seelenklempner, Psychologen und Therapeuten.

Die Angst aber, die in mir gärte, hatte ihr Werk der Zerstörung grade erst begonnen. Ungehindert setzte sie ihren Siegeszug fort, da ich medikamentös nackt da stand.
Jeder, der nicht kennt, was ich erfahren musste, möge Gott, dem Leben oder sonst einer höheren Macht auf Knien dafür danken, keine Ahnung davon zu haben. Er möge mit allem was er an Demut aufzubringen in der Lage ist darum bitten, es nie kennen lernen zu müssen.
Denn was mir bevorstand, war die realexistierende Hölle auf Erden, und ich bin Zeuge, dass es an menschlicher Erfahrung nichts gibt, was an Schrecken und Qual mit ihr zu vergleichen ist, keine körperliche Krankheit, keine Verwundung im Krieg, kein Hunger und Durst, keine Verfolgung und keine irdische Drangsal. Denn so hoch die Freuden des Himmels über denen der Erde stehen, so tief toben die Leiden der Hölle unter denen der Welt.
Ein unzählig Vielfaches an Angst, Pein, Schmerz und Not bedeutet der Abgrund der Höllenqual einer Depression vor denen, die die Erde ansonsten sieht. Der Himmel verspricht vollkommene Glückseligkeit, die Hölle aber ist vollkommenes und absolutes Entsetzen.

Der klare Gedanke ist es, der uns durchs Leben geleiten sollte. Immer wieder taucht er aus dem Äther einer Sternennacht auf und weist uns den Weg zur Entscheidung. Ich konnte mich stets auf ihn verlassen, und waren die Entschlüsse, die seiner Eingebung folgten, auch nicht immer die einzig richtigen, so waren sie zumindest einer von mehreren möglichen. In der Bewältigung der Folgen konnte ich meinen Weg fortsetzen und kam weiter, Schritt für Schritt durch Höhen und Tiefen, aber stetig voran. Der klare Gedanke war der letzte treue verbliebene Freund, auf den ich mich verlassen konnte.

Wenn es aber nun dem trügerischen Gedanken gelingt, den klaren zu überwältigen, zu fesseln und knebeln und in ein dunkles Kerkerloch zu sperren, ihn seiner prächtigen Kleider zu berauben um sich selbst damit zu kleiden und als Bote des Lichts und der Wahrheit einher zu schreiten, so geraten wir in seine Gewalt. Wir werden hilflose Opfer seiner Verblendung und Täuschung, ein Spielball vorgegaukelter Entscheidungen, die in Wahrheit nicht existieren, ein willenloser Sklave im Krieg gegen imaginäre Feinde und bedrohliche Mächte, die nichts als Abbild unserer Verwirrung und Orientierungslosigkeit sind, ja gegen Windmühlen, die zu gräulichen Riesen werden. Wir beginnen um uns zu schlagen nach unsichtbaren Geistern.

Angst und Furcht verleiten uns zu unbedachten Worten und blindwütigen Taten, wie ein blutrünstiger unersättlicher Dämon tobt die Einflüsterung in unserer Seele, und wir verfallen Wahn und Irrsinn mit jedem Schlag unseres erdrückten Herzens. Wir verlieren unser Selbst im Wirrwarr der Trugbilder.
Schenken wir der Lüge Glauben, vernichten wir die Wahrheit und sind Verlorene. Der Abgrund, der sich auftut in uns, hat keinen Boden. Er ist unendlich.

Das Eingeständnis eigenen Versagens führt den Menschen in die Freiheit. Selbsterkenntnis löst ihn aus den Verstrickungen der Selbsttäuschung und bringt ihn auf dem Weg der bitteren Einsicht zu sich selbst zurück. Auf den Weg der Wiedergutmachung und des Neubeginns. Dieser Akt jedoch erfordert Kraft und Substanz, seien sie spiritueller Natur oder Folge der reinen Vernunft.
Ist diese Reserve nicht vorhanden, bleibt auf Grund von Erschöpfung und Ausweglosigkeit nur der vermeintliche Ausweg der Schuldzuweisung. Der Grund und die Ursache zahllosen Übels. Der Auslöser von Familienfehden, Bürgerkriegen und Mord aller Art und Collier.

Selbstgerechtigkeit und Herrschsucht haben zwei scheinbar gegensätzliche Erzeuger. Die Selbstherrlichkeit und den Selbstverlust. Beide jedoch sind nur zwei Seiten ein und derselben Münze: Dem Taler der Unfähigkeit zu Selbstkritik und Hinterfragung.
Ich war gefangen in der Verdrängung meines Unvermögens und steigerte mich unaufhaltsam hinein in das fanatische Unterfangen, die Schuld überall und bei allen zu suchen, nur nicht bei mir selbst.

Es gibt mehrere Wege, in die Hölle zu gelangen. Dieser ist der sicherste.

Sintram

Der Mensch ist des Menschen Wolf

Ein ansonsten gutmütiges und friedfertiges Tier verwandelt sich in eine geifernde Furie, wenn es sich von Angreifern in die Ecke gedrängt fühlt. Ebenso verhält es sich mit dem Menschen. Da aber dieser nun die Fähigkeit der Abstraktion besitzt, pflegt er seine Aggression für gewöhnlich ins Verbale zu tradieren. Ebenso erging es mir.

Da ich aber nun vor mir selbst nicht als tollwütiger Hund erscheinen wollte, tarnte ich meine Eskalationen unter dem allzeit verfügbaren Deckmäntelchen der Fürsorge und Hilfsbereitschaft.
Zu meiner Verteidigung sei angeführt, dass ich den Gedanken, durch meine Egozentrik meine Frau an den Rand des Todes getrieben zu haben, schlicht nicht ertrug. Der Eifer der Wiedergutmachung jedoch deformierte mich zum Kontrolleur und Psychoterroristen.

Ich wurde für meine Frau zum Albtraum.

Es begann damit, dass ich die Ursache ihrer Verzweiflung und tiefen Leidens dort suchte, wo ich sie bei mir ausgemacht zu haben glaubte: Im Elternhaus, ihrer gescheiterten Ehe, sprich ihrem Exmann und dem gesamten sozialen Umfeld. Dieser zugegebenermaßen reichlich ignoranten und gefühlstauben Personengruppe –zumindest was die Probleme meiner Frau betraf – unterstellte ich in meiner geistigen Raserei sowohl böse Absicht als auch regelrecht teuflische Züge.
Mit aller Gewalt versuchte ich, meine Frau aus dieser Umgebung zu befreien, auch gegen ihren Willen, ja sie ihrer bisherigen Heimat zu entreißen, um ihr Leben zu retten.

Damit nicht genug. Ich verdächtigte ihren Vater des sexuellen Missbrauchs und ihre Mutter der Mitwisserschaft, während ihr Ex in meiner Reflexion mehr und mehr die Züge eines feigen skrupellosen Opportunisten annahm, den zu bekriegen und über dessen wahre Natur meiner Frau die Augen zu öffnen mir zur heiligen Pflicht wurde.

Zugegeben, die eine oder andere Erfahrung diesbezüglich festigte meine vorgefasste Meinung, aber weder kannte ich die betreffenden Personen, noch gaben sie mir Anlass zu einer derartigen Annahme, vom „normalen“ Trennungsstress einmal abgesehen. Ich erachtete die bloße Existenz dieser Menschen als akut lebensbedrohlich für meine Frau, als pures Gift für sie, und versuchte folglich mit aller Kraft, diese zu einer völligen Kontaktsperre zu nötigen in der felsenfesten Überzeugung, um ihr Leben zu kämpfen.

Ihr verständlicher Widerstand bestätigte mich lediglich in der sicheren Erkenntnis, wie mächtig und bedrohlich der subtile Einfluss der Unbekannten und ihre Kontrolle über meine wehrlose und uneinsichtige Frau in Wahrheit sei. Schließlich bezichtigte ich sie offen der Tötungsabsicht, weil eine tote Tochter besser sei in ihren Augen als eine geflohene, ohne mir auch nur im Entferntesten der Ungeheuerlichkeit dieses Irrsinns bewusst zu sein. Ich war mir meiner Sache sicher.

Ebenso wenig zog ich es also in Erwägung geschweige denn Betracht, mich möglicherweise verrannt zu haben oder gar den Verstand verloren. Dass die Wachträume, Bilder und Visionen meiner längst schlaflos durchwachten Nächte nicht Ausdruck außergewöhnlich therapeutischer Begabung sondern gewaltiger Umnachtung waren, blieb mir dementsprechend völlig verborgen, im Gegenteil, ich wies derartige Unterstellung empört von mir.

Ich war besessen von der Mission, das todbringende Vorleben meiner Frau restlos zu eliminieren und sie ausschließlich und umfassend an meine Person zu binden in der unerschütterlichen Überzeugung, dass dies und nur dies das Beste sei für sie.

Da aber meine Frau gottlob eine eigenständige Persönlichkeit ist, die selbst zu beurteilen weiß, was in ihrem Leben an nötigen Schritten zu tun ist, und sich akkurat weigerte, den Kontakt zu ihren Eltern und insbesondere ihrem krebskranken Vater abzubrechen, geriet ich in den Zustand gedanklicher und verbaler Tobsucht, den niederzuschreiben mir der Anstand verbietet. Nur so viel: Attila war ein Waisenknabe.

Der Mensch ist des Menschen Wolf, so sagt man seit dem alten Rom. Wenn er es doch nur wäre, dieses scheue, vorsichtige, soziale, solidarische und kluge Rudeltier.
Der Mensch ist kein stolzer, kühner Wolf, der sich vor dem Menschen hütet. Er ist ein nackter, entarteter Affe, verschlagen und heimtückisch, hochintelligent und unberechenbar. Er tötet Artgenossen nicht aus nackter Not, sondern aus niedrigsten Beweggründen wie Habgier, Eifersucht und Herrschsucht. Er hat nur einen Feind, der ihm wirklich gefährlich werden kann: Sich selbst.

So wurde auch ich mein ärgster Feind. Da das Vertrauen meiner Frau einen tiefen Riss erlitten hatte, dessen schwärende Wunde sie mit Verlustangst und Zorn quälte, suchte sie mit dem Mut der verzweifelt Liebenden Gewissheit. Ein sicheres und verlässliches Zeichen von Zuneigung und Liebe ist die Eifersucht, ein Wesenszug nicht allein der menschlichen Natur.
Auch Tiere eifern. Doch diese tun es ungehemmt und schamlos, während der Mensch stets bemüht ist, sie hinter allerlei rationell nachvollziehbaren Beweggründen zu verstecken. Worin ich eine gewisse Meisterschaft entwickelte.

Für meine Frau hingegen, die mich an der Nase herumführte und im Grunde zärtlich neckte, ohne sich in Wahrheit auch nur am Rande ernsthaft für einen anderen Mann zu interessieren, schon gar nicht für einen ausgemachten vermeintlichen Rivalen, bedeutete meine rasenden und lodernde Eifersucht, die mich zu allerlei unkontrollierten Gefühlsausbrüchen und Verschwörungstheorien hinriss, Sicherheit und das glückliche Empfinden, geliebt zu sein. Da ich meine Entgleisungen immer wieder erfolgreich relativierte, konnte sie nicht ahnen, wie sehr ich in Wirklichkeit darunter litt.

Auch hier resultierte mein Empfinden aus bittersten Erfahrungen, Vertrauen zu fassen war genaugenommen ein Ding der Unmöglichkeit für mich, der mir die Frauen regelmäßig und beharrlich Leid zugefügt hatten. Alle Schmerzen und Enttäuschungen der Vergangenheit brachen über mich herein, und ich, der ich als Supertherapeut meine Frau in die Freiheit entführen wollte, saß im Kerker meiner Erinnerungen und Prägungen, todwund und in die Ecke gedrängt, ein gefährliches, angriffsbereites Tier.

All diese Prozesse entwickelten sich per Telefon. Nur unsere Stimmen gaben uns die Gewissheit von Nähe. Unsere Mails waren die sichtbare Verbindung. Ansonsten spürten wir uns unentwegt. Dennoch war das Handy Rückhalt und Versicherung. Leider auch Folterinstrument.

Aber auch viel Gutes vermochte ich zu tun in den klaren Stunden meiner schleichenden Erkrankung. Ich konnte Trost zusprechen, Mut machen, zuhören, scherzen und lachen, auffangen, beruhigen und liebkosen. Ich fand auch die rechten Worte in diesen Phasen, die Liebe lehrte sie mich und gab sie mir ein. Nicht nur einmal war ich Hort der Zuflucht und Geborgenheit.

Ich ging den Leidensweg meiner Frau mit, die durch die Torturen intensiver Therapien gezerrt wurde, und wir fanden uns im gemeinsamen Erleben der unsäglichen Qual der Seelennacht vereint und stark.

Sintram

Der von einem Dämon besessen war

Die Entscheidung zum Freitod war gefallen in meiner Seele Jahre bevor ich per Internet im Austausch eines Depressionsforums, in dem ich mir die nutzlose Zeit vertrieb, meine Frau fand, unerwartet und auf geradezu wundersame Weise. Dieser einmal gefällte Entschluss hatte einen Prozess in meinem Innern freigesetzt, der mich unaufhaltsam verformte und in Folge des erloschenen Lebenswillens dem Tod in die erlösenden Arme trieb ohne Halt und Umkehr.

Nun aber, da ich endlich den Sinn meines unsteten Daseins, ein Leben an der Seite meiner vom ersten Augenblick an über alles geliebten Frau, gefunden hatte, suchte ich mit dem Mut der blanken Verzweiflung nach einer Möglichkeit, dieses zu verwirklichen und möglich zu machen.
Da ich aber seit Jahren nichts und wieder nichts an Offerten vor mir sah und all meine Wege konsequent in die Vernichtung führten, stürzte mich das Bewusstsein vollkommener Ausweglosigkeit, das mir bisher Hort der Ruhe gewesen war, in die Hölle geistiger Verwirrung. Ich zerbrach an dem Wissen der Unerfüllbarkeit der allumfassenden Liebe zu meiner Frau.

Plötzlich wollte ich wieder leben und sah gleichzeitig, dass kein Leben mehr möglich war für mich und uns. Meine Gedanken kreisten ziellos um dieses Ding der Unauflösbarkeit, bis sie schließlich im schrillen und aberwitzigen Rasen eines Kettenkarussells jede Verbindlichkeit und Substanz verloren.

Ich fällte jeden Tag eine Entscheidung, überzeugt von ihrer Richtigkeit und ebenso ohne die geringste Hoffnung auf irgend eine Möglichkeit ihrer Umsetzung, verwarf sie hierauf gründlich und mit Hilfe zwingender Argumente, um die nächste zu treffen und mit ihr ebenso zu verfahren.
Gleichzeitig versuchte ich mit glühendem Eifer und der Unerbittlichkeit ausgefeilter Redekunst meine Frau für die jeweilige Idee zu gewinnen und sie von der Unausweichlichkeit meines wohlüberlegten Entschlusses zu überzeugen, um sie noch am selben Abend oder spätesten nächsten Morgen mit unwiderleglichen Argumenten zu verwerfen.
Eifrig überzeugte ich sie von der Falschheit des Entschiedenen und überrumpelte sie noch im selben Atemzug mit dem endlich gefundenen Ausweg, den ich ihr nach aller Wirrung als definitiv präsentierte. Über Nacht aber, und die Nacht war das kalte nackte Grauen, löste er sich in Luft auf und machte einem andern Platz, dem es bald darauf ebenso erging.

Als meine wunderbar geduldige Frau nach Wochen engelsgleicher Aufmerksamkeit erschöpft die zaghafte Bemerkung fallen ließ, ob es denn möglich sei, dass etwas nicht stimme mit mir, wies ich ihre nur allzu berechtigte Sorge mit überlegener Entrüstung weit von mir.
Zornig führte ich ihr Misstrauen auf den negativen Therapeutin zurück, die offenbar nur eines im Sinn hatte, nämlich uns auseinander zu bringen, weil Liebesbeziehungen in ihrem beschränkten Kosmos lediglich Ausdruck von Fluchtverhalten seien, und ich für ihre Patientin eine reale Bedrohung.
Mag sein, dass ihr therapeutischer Ansatz streckenweise in diese Richtung zielte, eine Rolle spielte das im Grunde ebenso wenig wie die Weltsicht der Psychiater an sich, ich aber erlebte sie als reale Feindin und Gegnerin, die es auszuschalten galt.

Denn es gab in meiner Wahrnehmung nur einen Menschen, der wusste, was gut für seine Frau ist und somit der Einzige, der ihr wirklich helfen konnte. Dass diese sich uneinsichtig und eigensinnig weigerte, auf meine Weisungen und Ratschläge zu hören, bewies mir lediglich die reale Bedrohung der Gehirnwäsche, in der sie sich befand.

Langer Rede kurzer Sinn, ich hatte jeden Realitätsbezug vollständig verloren und war mit zwingender Logik der Letzte, der das auch nur in Ansätzen zur Kenntnis zu nehmen bereit war. Im Gegenteil, nur mir und mir allein war es offenbar möglich, in diesen überaus unübersichtlichen und schwierigen Zeiten den Überblick zu bewahren.

Die Mächte der Finsternis waren aus dem Abgrund gestiegen, um mich und meine Liebe zu vernichten, zu trennen und in den Tod zu treiben, und ich kämpfte als einsamer Ritter ohne Furcht und Tadel gegen Drachen und Ungeheuer, um meine Angebetete aus ihren Klauen zu retten. Immer tiefer verschleppten sie meine Frau in die Schlünde und Tunnel ihrer Höhlen, meine Fackel war am erlöschen, die Finsternis um mich herum wuchs, aber meines Wortes Schwert war zweischneidig und rasierklingenscharf, und mein Geist war klar und wach wie der eines unbesiegbaren Helden.

Dass ich und ich allein es war, der meine Frau in die Enge trieb, ihr in der relativen Geborgenheit der Klinik hinterher jagte wie ein böser Dämon, das erreichte mein Bewusstsein längst nicht mehr. Opferwillig nahm ich es auf mich, die Rolle des unangenehmen Arztes zu übernehmen, der für seine eigenwilligen Behandlungsmethoden von der Patientin gefürchtet wird, weil ich gewiss war, den Schlüssel zur Heilung zu besitzen.

Verhängnisvoller Weise war von meiner wachsenden Psychose an den gemeinsamen Wochenenden nichts zu spüren. In den Armen meiner Geliebten war ich wie ausgewechselt, ruhig, heiter, unternehmungslustig, zärtlich und liebevoll.
Kaum in meine immer enger werdende Kammer des Schreckens zurückgekehrt aber überfielen mich meine Wahnvorstellungen mit umso größerer Wucht. Atemnot quälte mich, bleierner Druck lastete auf meiner Brust wie ein Mühlstein, ein dicker Kloß saß mir im Hals, der Schlaf war längst geflohen, Alpträume überfielen mich in meinen Dämmerzuständen. Ich hatte keinerlei Hungergefühl mehr, aß folglich so gut wie nichts und magerte zusehends ab.
Ich war nicht mehr in der Lage, auch nur die Tageszeitung zu lesen geschweige denn ein Buch, der Fernsehapparat war längst kaltgestellt, zu sehr bedrängten mich selbst harmlose Bilder. Es kostete mich alle Überwindung, aus dem Haus zu gehen und einzukaufen, das Joggen nützte nichts mehr, im Gegenteil, ich lief mühsam wie durch Strudelteig und führte dabei ziellose Selbstgespräche.

Die stundenlangen Zugfahrten zur Klinik und zurück erlebte ich als unwirklich und bisweilen bedrohlich, wie in Trance geisterte ich durch die Menschenmassen der Bahnhöfe.
Meine Einträge in ein Tagebuchforum des Internets wurden abstruser und verworrener, auch gelungene Wortwahl half da nicht weiter. Mein frenetisches Gitarrespiel begann sich zu verselbständigen und wurde unheimlich. Nur selten war ich in der Lage, Musik zu hören, und wenn, blies ich mir per Kopfhörer die Gehörgänge frei und das Hirn leer, oft bis in ins Morgengrauen hinein.
Stundenlang starrte ich aufs Handy und wartete auf Nachricht, jedes Mal gewiss, meine Liebe für immer verloren zu haben, die Fülle der widersprüchlichen SMS aber, mit der ich meine Frau traktierte und bombardierte, verschlang Unsummen.

Mit einem Wort, ich war vollkommen durchgeknallt, ohne auch nur das Geringste davon zu ahnen. Ich befand mich im Herzen der Hölle ohne es zu wissen, und mein erbitterter Wille zwang mich, dieses Reich der Finsternis zu beherrschen.

Sintram

Sterbehilfe

Ich steckte also bis zum Hals in der Gülle, zerrissen von völliger Orientierungslosigkeit und im Hause meiner Schwester mit zunehmendem Maße als Störfaktor und Zumutung betrachtet und mit entsprechender Herablassung behandelt –obwohl ich Miete zahlte und nicht wenig, meinen Beitrag zur Haushaltskasse leistete, den Hund spazieren führte und nebst Küche immer wieder mal den gemeinsamen Wohnraum putzte, obgleich ich beide so gut wie nie benutzte.

Seit sich mit dem Einzug der Pflegetochter die finanzpolitische Situation meiner Schwester erheblich verbessert hatte, war mein Beitrag zum Mietzins ohnedies überflüssig geworden, im Gegenteil, der Minimalwohnraum, den ich für mich in Anspruch zu nehmen wagte, schien den Tatbestand einer Hausbesetzung zu erfüllen, und ich musste nicht lange darüber rätseln wieso.

Ihr ältester Sohn, der verzweifelte junge Mann im Hintergrund, hatte längst beschlossen, seinen berechtigten Rausschmiss in Wohlwollen aufzulösen, ausreichend guten Willen vorzutäuschen und –draußen redlich versandelt- heim zu Muttern zu flüchten. Ich stand seinen Plänen im Weg, und meine Schwester tat, was alle Mütter- eine absonderliche Spezies- in diesem Falle tun würden: Sie opferte ihren schwerkranken Bruder, um ihr ach so hilfloses Herzenssöhnchen heim ins Reich ihrer pädagogischen Fürsorge sprich Kontrolle zu holen.

Auf paradoxe Weise wiederholte sich die demütigende Lebenssituation mit Lebensgefährtin und Ziehsohn, der ich mit Müh und Not entkommen war. Wieder bin ich es, der auf der Strecke bleibt, ich, der Paradiesvogel der Goldfasan, den die aufgedunsenen Hühner des Mittelmaßes und der Gewöhnlichkeit nicht ertragen können in ihrem Stall, weil er nichts weiter tut, als durch seine bloße Existenz ihr kümmerliches Dasein der Durchschnittlichkeit zu offenbaren.

Zorn und Bitterkeit loderten in mir, Ohnmacht aber erstickte die Flammen.

Da ich keinen Boden unter die Füße bekam, ja nicht einmal fähig war, den seit Wochen herumliegenden Hartz IV Antrag auszufüllen, der mich bei jedem Querlesen mit Fragen bedrängte und verhöhnte, die einer Leibesvisitation und Entblößung gleichkamen, sah ich mich dieser Situation vollkommen wehrlos ausgeliefert. Es war mir nicht gelungen, trotz halbherziger Spontanversuche, Telefonate und Terminvereinbarungen, die Hilfe und den Rat eines Therapeuten zu suchen. Ich war nicht dazu im Stande, eine verbindliche Entscheidung zu treffen geschweige denn irgend Schritte in diese Richtung zu tun. Wie gelähmt vegetierte ich vor mich hin.

Mir war sehr wohl bewusst, dass die Rückkehr meiner Frau meinen gerade eben noch geduldeten Aufenthalt im Haus nicht gerade fördern würde, zumal Zärtlichkeit, Sanftmut und Liebe bei diesen Brachialgemütern vielleicht in Ansätzen bei ihren Meerschweinchen und Goldfischen zu finden waren, im täglichen Umgang jedoch den Status einer fernöstlichen ach was außerirdischen Lebensweise inne hatten. Feinere Gefühlswelten waren ihnen fremd, ja geradezu verhasst, weil für ihren täglichen Daseinskampf überflüssig wenn nicht gar hinderlich.

Nun wusste ich, dass meine Frau ein hochsensibler, liebevoller und verletzlicher Mensch ist, in diesem Haushalt also nichts anderes als eine Perle unter Bleikugeln. Gelang es mir noch gerade eben so, Einfühlungsvermögen und Gespür bei diesen mit mir blutsverwandten Zeitgenossen schlicht und ergreifend weder vorauszusetzen noch zu erwarten und mich entsprechend bedeckt und eingerüstet zwischen ihnen zu bewegen, so ahnte ich sehr wohl, dass sie den guten Willen, das Entgegenkommen und Bemühen meiner Frau um Harmonie und gegenseitige Hochachtung nicht nur mit Füßen treten, sondern durch den Fleischwolf drehen würden, da sie einen solchen Menschen in ihrer durchaus verrohten und egozentrischen Eigenart schlichtweg als Bedrohung empfinden mussten.

Ich fand es also zutiefst unverantwortlich, meine wertvolle Frau diesem barbarischen Pseudomiteinander, das nichts weiter war als ein wohlorganisiertes Jeder für sich und alle gegen Jeden darstellte, auszuliefern. Mit Ausnahme meiner Schwester, die mit ihrem Nie für mich und immer für die Kinder diese Situation erst ermöglichte, erfreuten sich meine Mitbewohner offenbar daran, ungeheuer anstrengend zu sein von Morgens bis Spätabends.
Für eine frisch aus der Käseglocke einer Klinik kommende Depressive waren sie schlicht gemeingefährlich, ja tödliches Gift. Ihre gerade so halbwegs beruhigte Depression würde in kürzester Zeit erneut zu voller Blüte gelangen, sie würde quasi in ein offenes Messer laufen.

Allein, ich wusste nicht wohin und was sonst tun.

Die einzige Alternative, mein Elternhaus, erschien mir als ebensolche wenn nicht noch schlimmere Überforderung. Inzwischen lag meine Mutter infolge eines Schlaganfalls und offenen Herzinfarktes im Doppelpack völlig verwirrt und halbseitig gelähmt im Krankenhaus.
Mein Vater, den diese Tragik gnadenlos überforderte, glitt zusehends in feindselige und hochgradig paranoide Umnachtung, die ihn jede angebotene Hilfe erbittert von sich weisen ließ. Er verbarrikadierte sich, saß in Russland im Schützengraben, und erachtete den Rest der Welt als Iwanhorde, die ihm mit gellenden Urrä- schreien nach dem Leben trachtete. Unfähige Ärzte waren gerade dabei, seine Frau zu Tode zu foltern, falsch zu behandeln und letztlich zu ermorden. Die Krankenkassen terrorisierten ihn mit Zahlungsbefehlen und verweigerten ihrerseits jede Unterstützung. Und so weiter.
Da ich ihn nur zu gut kannte, war mir klar, dass dieser Zustand sich bis ins Psychotische steigern würde, und zwar unaufhaltsam, weil keine Gattin ihn mehr ausbremste, was das Zusammenleben mit ihm wenigstens auf absehbare Zeit zu einem Ding der Unmöglichkeit machte. Insbesondere für meine Frau, die ihn ja nicht kannte.

Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass meine Mutter das Krankenhaus nicht mehr verlassen würde. Die Einweisung in eine Reha-Klinik war nichts weiter als medizinisch verordnete Sterbehilfe. Die Option, sie nach einer eventuellen Entlassung nach Hause ebendort zu pflegen, scheiterte an den baulichen Gegebenheiten. Ein zeitaufwändiger Umbau wurde in Anbetracht ihrer verbleibenden Lebenserwatung zur Vergeblichkeit.

Sintram

Entscheidend für mich aber zeichnete sich die Tatsache ab, dass die Gute, deren Lebenskraft schwand mit jeder Sekunde, keinen Lebenswillen mehr aufzubringen willens und in der Lage war. Bei einem Besuch klagte sie wimmernd, hätte sie die Wahl, sich zwischen Leben und Tod zu entscheiden, würde sie mit Freude und liebend gern den Tod wählen.

Mit zitternden Händen demonstrierte sie beide Angebote mit Hilfe einer Kerze und einer leeren Kaffeetasse. Meine Schwester samt Nichte beteuerten ihre angstbesetzte Diesseitsbezogenheit mit gutem Zureden und fast lächerlichen Aufmunterungsversuchen der üblichen Art, wobei sie -fairer Weise bemerkt- sicher auch Mitleid und Betroffenheit an den Tag legten.

Ich saß still und stumm am Tisch und dachte nur müde, nun, wo ist das Problem. Erstens hast Du sowieso keine Wahl mehr und zweitens wirst Du mit Sicherheit sterben und zwar bald. Also wähle ruhig den Tod. Du hast genug gelitten, was also soll die weitere Quälerei? Eine Lebensverlängerung ist das hier sowieso nicht mehr, bestenfalls eine Sterbeverlängerung. Du kannst nicht mehr gehen, bist taub, leidest unter rasendem Gedächtnisschwund, alles was Dich noch erwartet, sind Schmerzen. Also, was soll´s? Stirb.

Mehr hast Du nicht zu tun.

Ihr Tod erschien mir mehr als empfehlenswert und einleuchtend, er war schlicht das Allerbeste. Besser in jedem Falle als ein qualvolles Dahinsiechen mit Brust- Magen- und Darmkrebs. Nun, da ihre Verdrängungsmechanismen dabei waren, zusammenzubrechen, wurde ihr das klar und klarer. Was Wunder also, wenn sie sich den Tod wünschte? Das war nicht nur legitim, sondern vollkommen normal und natürlich.

Stirb, Mutter dachte ich also nur mit müder Gelassenheit, das ist mit Sicherheit das Beste, was Du noch tun kannst. Stirb einfach, das genügt vollauf. Mehr gibt es nicht mehr zu tun. Das passt schon.
Während sie noch davon sprach, dass sie für uns junge Menschen, die ja noch so viel Leben vor sich hätten –sie meinte wohl meine Nichte- nichts weiter sei als eine unzumutbare Last, und die andern beiden ihr heftig widersprachen, musterte sie plötzlich aufmerksam mein erschöpftes Gesicht und meinte mit seltsam heiterem Unterton in der gebrochenen Stimme: Gell, Du, du siehst das alles ganz anders.

Ich fühlte mich ertappt, rückte ein wenig unbehaglich auf dem Stuhl herum, aber nun, sie hatte ja recht. Nein, ich meine, ja, ich versteh Dich schon, aber das kriegen wir schon hin, das bekommen wir schon irgendwie hin. Mehr fiel mir dazu tatsächlich nicht ein, und da ich nicht wollte, dass Schwester samt Nichte die Verschwörung und Übereinstimmung Todgeweihter mitbekommen, die da ein Ja zum Tod beinhaltet, hüllte ich mich erneut in Schweigen. Eine Offenheit meinerseits hätten diese beiden in den Überlebenskrieg Verstrickten ohnehin als geschmacklosen Zynismus empfunden.

Meine Mutter jedoch hatte mich offenbar verstanden, irgendwie, telepatisch, intuitiv, wie auch immer. Aus der Reha ins Seniorenstift entlassen, verweigerte sie Flüssigkeit und Nahrung, legte sich hin und starb.

Sintram

Der Dämon

Alles war genau so eingetroffen, wie ich es befürchtet und insgeheim erwartet hatte. Meine Frau schlitterte wenige Tage nach ihrer Entlassung zusehends in eine erneute Depression. Das war umso tragischer, ja absolut unerträglich, da sie wie ausgewechselt und verwandelt zurückgekehrt war, selbstbewusst und mit dem Gefühl in der Seele, ihren bisherigen Schub mit Willenskraft und Erfolg überwunden zu haben.

Es kam mir nicht im Entferntesten in den Sinn, dass ihre zunehmende Verzweiflung mit mir und meiner Verfassung zu tun haben könnte. Wie schon zuvor in der Klinik weigerte sie sich offenbar beharrlich, sich auf Gedeih und Verderb auf meine Pläne einzulassen, da sie wie erwartet mit sogenannter Vernunft und Gesundheit versaut worden war.

Ein letzter Besuch mit ihr bei der sterbenden Mutter wurde zum Fiasko. Die Todgeweihte äußerte nur den einen Wunsch und letzten Willen, ich solle mich um ihren Mann sprich meinen Vater kümmern. Da sie nicht aufhörte, mich flehend zu beschwören und bestürmen und in absoluter Verzweiflung darum rang, blieb mir schon um ihres Seelenfriedens Willen nichts anderes über, als ihr dasselbe zu versprechen.
Freilich nur insofern er, der sture alte Mann, das überhaupt wolle und zulassen würde. Und es sah nicht danach aus. Ganz im Gegenteil.

Denn dieser hatte sich erwartungsgemäß in den Leibhaftigen verwandelt. Brütend und grimmig thronte er im Reich seiner Finsternis und schmetterte jedwedes Hilfsangebot durch eisiges Schweigen ab. Die Unterbreitung meinerseits, bei ihm einzuziehen und ihn zu unterstützen, belegte er mit den altbekannten verletzenden und verächtlichen Bemerkungen. Umwölkt von Bösartigkeit und strotzend vor Feindseligkeit war er die reale Verkörperung der Finsternis. Der Dämon, den ich nur allzu gut aus Kindertagen kannte. Nur leider meine Frau nicht.

Meine empfindsame und durch die seelischen Eingriffe ihrer Intensivtherapien übersensibilisierte und somit anfechtbare Frau ertrug die Realexistenz in Person und Haus meines Vaters nicht. Sie litt wie ein Engel, der versehentlich in die Hölle geraten war. Sie fürchtete sich vor ihm, und eigentlich zu Recht, den er war zum Fürchten.
Dass ich keine Angst empfand, verdankte ich der traurigen Tatsache, dass mir dieser Satan in Menschengestalt seit frühester Kindheit vertraut war. Ich hatte an dem Tag aufgehört ihn zu fürchten, als –herangewachsen- eine Prügelei mit ihm zu meinen Gunsten ausgefallen wäre. Nun hätte ein Schlag von mir genügt, ihn zu töten.

Dennoch machte ich dem Höllenspektakel ein jähes Ende und verließ das Schreckenshaus Hals über Kopf in nächtlicher Flucht, da ich meine Frau in völliger und gefährlicher Erstarrung fand. Ein Okkultist oder Exorzist würde die Aura, die selbst die Möbel umgab, wohl mit Präsenz umschreiben. Für mich war es nichts weiter als verkörperte und ausstrahlende Antimaterie und Negativenergie.

Im Grunde Ausdruck dessen, was mein Vater in früheren Jahren uns und seiner Frau angetan hatte. Jetzt war Zahltag, er erntete grade die Früchte dieser absurden Ehe, ja seines verpfuschten Lebens. Dass er dafür in der Hölle gelandet war, zumindest vorübergehend, empfand ich als durchaus angemessen und gerechte Sache.
Ich beschloss also, ihn vorerst ein wenig in derselben schmoren zu lassen. Konnte nicht schaden, verdient hatte er sie sich allemal und redlich.

Die Mutter musste ich schweren Herzens dem überlassen, dem sie ohnehin schon gehörte- dem Tod. Sterben musste sie sowieso alleine, alle Menschen müssen das.

Der bis dato ins Auge gefasste Fluchtweg hatte sich als Unding heraus gestellt. Es wurde verdammt eng.

Sintram

Ausweglos

Die letzte Karte, die ich noch im Ärmel hatte, war bestenfalls ein Gras Unter. Die leerstehende und ausgekühlte Zweizimmerwohnung im alten und notdürftig beheizten Bauernhaus meines Freundes und Mitmusikers am Rande der verhassten Stadt, die ich hinter mich gebracht glaubte, stand leer.
Hierbei handelte es sich um eine charmante Bruchbude, zwar mit neuen Fenstern, dafür gab es Küche und Bad nur zur gemeinsamen Benutzung im Angebot, beides eher zusammengeschustertes Provisorium als Wohnraum. Alles hübsch alternativ, verwandelte sich der Hausflur samt besagter Kammern im Winter in einen Kühlschrank, in dem noch Minusgrade herrschten, wenn draußen schon die Krokusse blühten. Der Fußboden, unbeheizt unterkellert, glich von den Temperaturen her einer Eisdecke.

All das hätte ich gern in Kauf genommen, sogar die demütigende Rückkehr in die Stadt meiner finstersten Abneigung, jedoch traute ich meinem Kumpel nicht recht über den Weg. Ich hatte im Laufe der Jahre Charakterzüge und Eigenarten an ihm festgestellt, die mir ein Zusammenleben mit ihm als äußerst schwierig erscheinen ließen.

Obwohl sich meine Frau nach einer Besichtigung das Ganze durchaus vorstellen hätte können, befiel mich massives Unbehagen, ich nahm von der Option Abstand und entschied stattdessen, uns am Rande der fränkischen Kaiserstadt niederzulassen, in deren Umkreis ich reizvolle ländliche Gegenden entdeckt hatte.
Mit welchem Geld und auf welchem Wege fragte ich mich nicht, es müsste nur sofort geschehen, da meine Frau die Lebenssituation im engen Haus meiner Schwester keinen Tag mehr länger zu ertragen in der Lage war. Ich beobachtete massive Suizidtendenzen an ihr.

Es ging im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod.

Ich drehte mich seit Monaten im Kreise und war am Ende meiner Kraft. Also machte ich meiner Frau das Angebot, gemeinsam mit mir aus dem Leben zu scheiden. Sie habe dabei nichts zu befürchten, da ich ihr Todesengel sei und über den Tod hinaus nicht von ihrer Seite weichen würde. Außerdem sei es schließlich seit langem ihre Sehnsucht, sterben zu können. Da uns das Leben offenbar abgeschrieben hatte, war es Zeit zu gehen.

Und da geschah das Ungeheuerliche: meine Frau wollte leben. Sie war eine von den Anderen geworden, von den Feinden, den Funktionierenden, war übergelaufen, war sozusagen gesund, geheilt, gleichgeschaltet. Ich hatte sie verloren. All das verzweifelte Ringen der letzten Monate war vergeblich gewesen. Alles war vorbei.

Sie konnte mir in der Folge ihre Liebe noch so verzweifelt beteuern und ihre Beweggründe noch so schlüssig erklären, ihre Worte erreichten mich nicht mehr. Ihr Entschluss, eine Zeit lang zu ihren Eltern zurückzukehren, um Ruhe zu finden und einen klaren Kopf zu bekommen, bedeutete für mich die definitive Trennung.
Ihre Beschwörungen, dass ich verdammt noch mal dringend ärztliche Hilfe bräuchte und sie absolut nicht mehr weiterwisse und schlicht nicht mehr könne, betrachtete ich als Ausreden, um ihr Gewissen zu beruhigen.

An meiner felsenfesten Überzeugung, dass sie mich bereits verlassen hatte, weil sie nicht in der Lage war, mit mir zusammenzuleben, konnte sie nichts ändern. So wie es aussah, hatte sie den Entschluss heimzugehen und womöglich zu ihrem Mann zurückzukehren schon in der Klinik gefällt. Es bestand kein Zweifel daran, ich hatte sie und somit mein Leben verloren.

Ich floh erst mal und drehte eine hastige Runde, als ich sie beim Zurückkommen dabei antraf, ihre sieben Sachen ins Auto zu packen, verlor ich Gesicht und Fassung und beschimpfte sie wüst. Nackte, blanke Verzweiflung hatte mich in ihrer Gewalt, der Schmerz war ungeheuerlich, ich hörte nicht mehr, was sie mir sagte, ihre Beteuerungen fanden keinen Weg mehr zu mir.
Als ich schließlich die Rücklichter ihres Autos um die Ecke verschwinden sah, wankte ich hoch in meine Dachkammer, warf mich aufs Bett und brach innerlich und äußerlich zusammen.

Die folgenden Tage und Nächte verschwammen zu einem Albtraum aus zitternder Hoffnung und unaussprechlicher Pein. Ich sandte eine SMS nach der anderen ab, sprach Dutzende von Botschaften auf ihre Mailbox, wobei ich von bitteren Vorwürfen zu innigen Liebesbezeugungen zu verzweifelten Forderungen zu flehenden Bitten bis hin zu Verwünschungen in einem irren Auf und Ab durch qualvolle Gefühlswelten schlitterte, taumelte, stürzte, ohne Halt und Zurück, ohne Hoffnung, ohne Gnade, ohne Ende.

In den frühen Morgenstunden klingelte ich sie aus den Federn, überhäufte sie mit einer Mischung aus Schmerz, Zorn, gewaltiger Liebe und zynischer Zurechtweisung, ich machte ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle heiß, eine Hölle, in der ich mich krümmte und wand, wehklagend und hemmungslos weinend.
Mit lautlos gellenden Schreien wälzte ich mich auf dem Boden, verkrallte meine Finger in das Kopfkissen, vergrub mein Gesicht darin und schrie ihren Namen. Speichel troff mir aus dem Mund, mein Kopf pochte zum Zerbersten, mein Herz stach mir in der verengten Brust. Ich litt, wie ich nie zuvor in meinem Leben gelitten hatte, und ich hatte Leid gekostet bis zum Überdruss, zum Gehtnichtmehr und bis zur Lebensmüdigkeit.
Nun aber starb ich ohne Hoffnung, unter entsetzlichen Qualen und vollkommen absolut allein. Ich starb den Tod der Liebe, der ewigen Liebe, die ich für immer verloren hatte und die mich nun mordete ohne Erbarmen.

Ich glaubte meiner Frau kein Sterbenswort mehr. Sie konnte in Engelszungen reden, für mich war jede ihrer Liebesbeteuerungen lediglich Beweis für ihre endgültige Entscheidung. Ihre Argumente klangen in meinen Ohren nach Angst davor, dass ich mir etwas antun könnte, eine Tragödie, die sie ja nun wirklich nicht gewollt hatte.
Ihr Entschluss stand offenbar fest, unverrückbar, und alles was geblieben war von unserer unsterblichen Liebe war kaltes Mitleid.

Sie hatte sich für das Leben entschieden. Das Leben fürchtet und hasst den Tod. Ich hatte sie an das Leben verloren.

Sintram

Der Entschluss

Dann kam der Anruf, dass meine Mutter in den letzten Zügen lag. Tags zuvor hatte ich mich in der örtlichen Psychiatrie angemeldet in der Hoffnung, durch diesen Bezeug guten Willens meine Frau doch noch zurückzugewinnen. Sie begrüßte meinen Entschluss, machte indes keinerlei Anstalten, zu mir zurückzukehren.
Es war sonnenklar. Sie wollte schlicht, dass ich am Leben bleibe, allein ihres Gewissens wegen. Und ohne sie. So wie sie ohne mich am Leben bleiben wollte.

Sie hatte die allgemeine Überzeugung einer hoffnungslosen Fluchtbeziehung zu ihrer eigenen gemacht. Wer weiß, vielleicht war es sogar die richtige Entscheidung für sie, sich vor mir in Sicherheit zu bringen. Für mich jedenfalls war ein Leben ohne sie ausgeschlossen, es gab keines mehr.

Dumpf und taub fuhr ich mit meiner Schwester ins Altenheim, wo meine Mutter seit drei Tagen daniederlag, und fand sie ins Koma gesunken. Ich küsste ihre Stirn und streichelte ihr eingefallenes seltsam jugendliches Gesicht. Flüchtete in die Hauskapelle und weinte hemmungslos.

Dann saß ich mit meinen Geschwistern stundenlang an ihrem Sterbebett. Alles war nichts weiter als ein unwirklicher Traum. Eine seltsam entrückte Klarheit hatte von mir Besitz ergriffen, die Töne um mich her waren gestochen und scharf, im Muster der Bodenfließen entdeckte ich Gesichter und Fratzen, draußen im Gang zwitscherte ein Kanarienvogel, sein seltsam schwermütiger Gesang hallte laut wie im Urwald.
Meine Geschwister waren mir sonderbar nah und doch unendlich weit entfernt. Nur die Sterbende schien mir wirklich. Es gab nur noch den Tod in meiner Wahrnehmung. Das Leben war mir entschwunden.

Eine halbe Stunde etwa, oder war es eine volle, blieb ich mit meiner Mutter allein im Zimmer. Ruhig nahm ich Abschied von ihr. Ich segnete sie, vergab ihr und bat sie um Vergebung, sprach Vertrautes und befahl sie Gottes Engeln. Mehr war nicht zu tun. Und es war gut so.
Ich verließ sie befreit und zufrieden. Alles, was je zwischen ihr und mir gestanden hatte, war ausgelöscht. Alles, was sie mir angetan hatte, starb mit ihr. Ich wusste mit seltsamer Gelassenheit, dass ich sie im tiefsten Grunde meines Herzens immer geliebt hatte.

Im Epizentrum der Depression angelangt, war ich dem Tod sehr viel näher als dem fremdgewordenen Leben. Ich bin gewiss, dass sie mich hörte. Ihr Bewusstsein war längst in eine höhere Daseinsstufe entrückt, von der aus sie mit mir kommunizierte. Wir begegneten uns reuig und zerknirscht, aber ohne Groll und Vorwurf. Ich war ihr nah wie seit den Tagen der Schwangerschaft nicht mehr, und es war gut, mit ihr versöhnt zu gehen und sie so gehen zu lassen.

Meine Schwägerin fuhr mich heim, unterwegs kehrten wir ein und ich plauderte locker und selbstverständlich. Keine zwei Stunden nach Ankunft in meinem Totenkämmerchen, aus dem alles Licht und Leben für immer gewichen war, überbrachte mir dieselbe die Todesnachricht. Ich sagte nur, das sei eine Gnade. Fast heiterer Frieden erfüllte mich. Und ich beneidete meine Mutter zutiefst.

Ich erwachte entschlossen und tatkräftig. Mein letzter verzweifelter Versuch, meine Frau doch noch zu Einsicht und Umkehr zu bewegen, war zugleich die letzte Vergewisserung über die Richtigkeit meiner Absicht.

Ich konnte einen Freund per Telefon weich treten, der sowieso grade nichts zu tun hatte und meinen Bruder gewinnen, der froh war über jede Ablenkung, meldete mich telefonisch bei meinem Kumpel im Gefrierschrank an und bestellte einen Möbelwagen.
Dann begann ich meine Sachen in Umzugsschachteln zu verstauen, baute die wenigen Regale ab, mein Bett, das verlassene Liebesnest mit den kalten Laken, verstaute meine Bücher und CDs. Zwischendrin winkte ich meiner Schwester Bescheid, die ihre Erleichterung nur schwer verbergen konnte. Irgendwann erreichte ich meine Frau und teilte ihr meinen Entschluss mit.

Sie war offenbar begeistert von meiner Energie, und wirkte alles in allem sprachlos. Sie gratulierte mir regelrecht dazu, endlich Initiative zu ergreifen und das Leben anzupacken. Sie reagierte wie die Gesunden um mich her.
Kein Wort aber fiel davon, mir baldmöglichst, ja noch heute, wie ich insgeheim gehofft hatte, nachzufolgen. Ich tu es nur für uns, sagte ich, ich weiß, antwortete sie. Das war alles und es war genug. Denn es bedeutete nichts.

Jetzt hatte ich die Gewissheit, die ich brauchte. Sie hatte nie vorgehabt, zu mir zurückzukommen. Es erleichterte sie nur, dass ich dabei war, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. So konnte sie mich beruhigt entlassen. Es war aus und vorbei, endgültig und todsicher.

Ich wuchtete mit meinen angereisten Helfern das Zeug in den Möbelwagen, ruhig und konzentriert, verabschiedete mich und sogar herzlich von meinen leidigen Wegbegleitern, döste während der Fahrt und verstaute meine Siebensachen bei meinem Kumpel angekommen in den kalten Zimmern. Dieser hatte nichts besseres zu tun, mit der Forderung, wir sollten uns doch hierbei bitte die Schuhe ausziehen, bei meinem fassungslosen Bruder auf strikte Verweigerung dieses absurden Ansinnens zu stoßen. Ohne Willkommensgruß ließ er mich links liegen.

Anschließend esse ich bei meinem Bruder mit deren Lebenspartnerin mit Appetit und Genuss zu Abend und nächtige in deren Wohnzimmer. Tags darauf begeleiten diese mich zu meiner neuen Bleibe, es ist ein schöner Spaziergang mit angeregten Gesprächen. Ich baue Bett und Regale auf, räume meine Bücher ein und betrachte zufrieden mein Werk.

Abends schlendere ich in die nächstbeste Abendmesse, wo ich einen Bekannten treffe. Dieser begeleitet mich ein Stück des Weges, und ich schildere ihm meine Situation in groben Zügen. Beim Überqueren der alten Steinbrücke fällt mir auf, dass der Fluss vom Dauerregen der letzten Tage mächtig angeschwollen ist und beachtliches Hochwasser führt.

In diesem Moment meint mein Begleiter ermutigend: "Es gibt immer einen Ausweg". Ich betrachte die Strudel und wäge ruhig ab. Meine Entscheidung ist gefallen, nun weiß ich auch um das Wie.


Sintram

Rettung in letzter Sekunde

Ich hatte immer geglaubt, dass der letzte Morgen im Leben eines Menschen etwas ganz Besonderes sein müsse. Dem ist nicht so. Es war ein Tagesanbruch wie jeder andere. Es dämmerte, wurde hell und ich wach davon.

Nur dass ich nicht mit jähem Entsetzen aus dem bleiernen Nichts emporschoss, den Namen meiner Frau auf den spröden Lippen, dessen Klang mir unermesslichen Schmerz bereitete, um sofort in den Schlund entsetzlichster Verzweiflung zu stürzen, tief und tiefer in endlosem Fall, ich erwachte ruhig und unheimlich gelassen.

Eine durchwachte Weile in den ersten Morgenstunden hatte genügt, mein Leben Revue passieren zu lassen und damit abzuschließen, endgültig und absolut.
Wohl tobte der Schmerz noch in meinem Innern, aber es war das schwelende Feuer nach dem Grauen einer Bombennacht, und nichts von dem was vorher war existierte noch. Ich atmete, mein Herz schlug, im Grunde aber war ich bereits tot.
Mein Freitod bedeutete lediglich den Vollzug dessen an der Hülle des Leibes, was in meiner Seele bereits stattgefunden hatte.

Der Gedanke an meine Frau, der mich seit Tagen mit mörderischer Grausamkeit aus den Träumen riss, hatte hingegen seine Qual verloren. Etwas anderes beschäftigte mich. Das Versprechen, irgendwann in den Monaten unseres Überlebenskampfes gegeben, uns den Freitod gegenseitig anzukündigen, uns schlicht bescheid zu winken, wollte ich bereitwillig einhalten.

Das war ich ihr wohl schuldig. Immerhin hatte sie mir die glücklichsten Stunden meines Lebens beschert.
Gefühllos und mit der Ruhe der gefällten Entscheidung griff ich also zum Telefonhörer und wählte die vertraute Nummer. Sie war zu meiner Überraschung sofort an der Muschel. Ich erzählte vom Umzug, redete ein Weilchen über die bevorstehende Beerdigung, versuchte sie davon abzuhalten, den weiten Weg auf sich zu nehmen und ihr beizuwohnen. Es war tiefer Winter und die Wetterlage unsicher.
Irgendwann meinte ich beiläufig Und dann mache ich Schluss. Da ich fest davon ausging, dass sie meine Entscheidung verstehen und diesen Schritt akzeptieren würde, weil sie mich schließlich kannte wie niemand sonst auf Erden und ihr derlei Gedanken selbst nicht fremd waren, rechnete ich fest mit ihrer Zustimmung.

Ihre Reaktion überraschte und verblüffte mich. Sie weinte los, spontan und hemmungslos. "Und was ist mit mir," schluchzte sie, "du verlässt mich."
"Wieso ich Dich?" frage ich erstaunt zurück, "Du hast doch mich verlassen." Das habe sie nie getan, nicht einmal vorgehabt, und werde sie niemals tun.

Aber weniger ihre Worte sind es, die mich stutzig machen. Vielmehr die nackte Verzweiflung dahinter. Ihr herzzerreißendes Weinen, ihre bebende Stimme, ihr flehender Klang, all das erreichte und berührte mich. Sollte ich ihr tatsächlich noch so viel bedeuten, dass ihr mein selbstgewählter Tod einen derartigen Schmerz zufügen würde? Konnte ich es vor meinem Gewissen verantworten, der Frau, die ich über alles liebte, derart tief zu verletzen? Nun, meine Liebe konnte ich im Augenblick zwar nur sehr entfernt empfinden, sie war begraben in Schmerz und Trauer, aber war es denn wirklich nötig, ihr das anzutun?

Ich hatte doch eigentlich Zeit. Meine Entscheidung war zwar gefallen, konnte aber ohne größere Umstände vertagt werden. Wer weiß, vielleicht würde sie nach einer Begegnung besser verstehen? Denn wie es schien, wollte sie unbedingt, dass ich lebe. Die Eindringlichkeit ihrer Worte, ihr Ringen um Ruhe, ihre Beharrlichkeit, all das zeugte von augenscheinlicher Bestürzung und Verzweiflung. In ihrer offensichtlich höchsten Not wirkt sie überzeugend und glaubwürdig.
Ich lasse mich also dazu breittreten, ihr hoch und heilig zu versprechen, dass ich es sofort und auf der Stelle meinen Bruder mitteilen und mich gleich nach der Beerdigung unverzüglich von ihm in die Psychiatrie verfrachten lassen müsse. Widerwillig gebe ich ihrem Drängen schließlich nach, lege auf, schlendere in die Küche, setz mich an den bereits gedeckten Frühstückstisch und weihe meinen Bruder in kurzen sachlichen Worten ein.
Der ist nicht nur sichtlich betroffen, sondern geradezu entsetzt, ebenso seine Lebenspartnerin, ich wundere mich zwar ein wenig, geh aber zurück ans Telefon und ruf erneut meine Frau an, sie zu beruhigen. Die spricht dann auch mit meinem Bruder, und ich versinke in einen Zustand apathischer Gleichgültigkeit.

Bewusstlos sitze ich wenig später hinten im Auto und betrachte die Landschaft. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, was soll´ s, und außerdem ist ohnehin alles vollkommen bedeutungslos geworden.
Je näher die Fahrt durch Nichts mich meinem Geburtsort bringt, desto unruhiger werde ich. Ich spüre die Nähe meiner Frau. Sollte ich sie tatsächlich wiedersehen? Bei Ankunft erreicht mich ihre SMS. Sie wartet bereits am Friedhof auf mich.

Ich steige aus dem Auto und setze mich dorthin in Bewegung. Meine Schritte werden immer schneller. Die letzten zweihundert Meter laufe ich. Die Geliebte, mein Leben, mein Alles, mein Glück ist da. Für einige Minuten fühle ich mich lebendig und voller Sehnsucht. Als ich sie sehe, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich umarme und küsse sie glückselig.

Dann mustere ich ihr Gesicht, es trägt Spuren tiefen Leid und Kummers. Ist das etwa mein Werk? Was ist geschehen? Erneut gleite ich in den Zustand seltsamer Unwirklichkeit, der mich die ganze Beerdigung über nicht mehr verlässt.
Tags zuvor habe ich mit meinem Bruder noch die Predigt verfasst, nun lausche ich ihr fast amüsiert. Was für eine haarsträubende Heuchelei, das alles, Enkel, die sich ihr Lebtag nicht um sie kümmerten, füllen die Bank, selbst meine Ex ist anwesend. Wittert sie ein Erbe? Eine billige Schmierenkomödie, ein Affentheater.

Allein die Nähe meiner Frau nehme ich wahr. Ganz hinten sitze ich mit ihr, aus Angst, zusammenzubrechen, und betrachte das Ganze aus gebührendem Sicherheitsabstand. Sie tut mir gut, gibt mir Halt und Kraft. Mit ihr an meiner Seite lasse ich die ganze Prozedur teilnahmslos über mich ergehen, marschiere mit den Andern zum Friedhof, könnte ebenso gut auf einer Demo sein, besprenge den Sarg mit Weihwasser und suche das Weite.
Der Leichenschmaus kann mir gestohlen bleiben, ich hasse derlei ohnehin. Abschied habe ich längst genommen, dieser Leib war nichts als entseelte Materie, was soll das ganze Zimborium um eine Entsorgung.

Vielleicht hätte ich es geschafft, bis zur Ankunft im Bezirkskrankenhaus in diesem Zustand tauber Teilnahmslosigkeit zu verharren. Schneefall aber verlangsamt die Fahrt, ein schwerer LKW- Unfall zwingt uns in stundenlangen Stau und auf Umleitungen über die Landstraße.


Sintram

Nach sechs Monaten gnadenlosen und nackten Überlebenskampfes , verzweifelten Ringens um mein pures Daseinsrecht und bloßes Sein jenseits von Sicherheit und Daseinsbewältigung, einem entsetzlichen Krieg um die Erhaltung meines innersten Wesenskerns, meiner Identität und Persönlichkeit, meines Selbst und Ich, das es wagte und den ungeheuerlichen Anspruch stellte, um seiner selbst Willen geachtet und geschätzt und geliebt zu sein, ungeachtet der Nichtigkeit von Tat und Erscheinungsform, die nichts ist als beliebig wandelbare Äußerlichkeit, Illusion und Trugbild, erst jetzt, da dieses Selbst, dieser Wesenskern dessen, was ich bin und immer war und immer sein werde, ein einmaliges und einzigartiges Ebenbild, aus dem Raunen der Ewigkeit geformt und geschaffen, um derselben entgegen zu streben, die Quelle dieses Erdendaseins in der Mündung zu vollenden und einzutauchen in das Meer der Unendlichkeit, erst jetzt, da die letzte gläserne Schutzwand klirrend und splitternd zerbarst, die dieses Kind, diesen Jugendlichen, diesen erwachsenen und werdenden Greis schützend umhüllt hatte seit Anbeginn und die nun zersprang, um das Verborgene freizugeben, das der Fontäne eines Vulkanausbruchs gleich wie ein mächtiger Lavastrom aus glühenden Abgründen des Unterbewussten emporschoss, erst jetzt, als da nichts mehr war als ich und ich allein, brach ich in mich zusammen.

Ich wurde erbarmungslos zerschmettert von der allmächtigen Wucht verratener Liebe, gebrochenen Vertrauens, zerstörter Illusionen, verlorener Wirklichkeiten, gescheiterter Lebensmodelle und enttäuschter Hoffnungen, wurde bei lebendigem Leibe zerrissen von der Unerträglichkeit des Schmerzes ewigen Unverstandenseins, unendlicher Einsamkeit, zertretenen Bemühens und unerwiderter Liebe.
Wehrlos, hilflos ohne Halt wie ich war brach meine grenzenlose Verzweiflung über mich herein wie eine Sturmflut, verschlang mich wie ein Erdrutsch und begrub mich wie eine mächtige Lawine. Da war kein Wille mehr und keine Kraft, der schwarzen Masse aus Unglück und namenloser Not Einhalt zu gebieten, sie zu fassen und ihren Fluss zu bändigen, keine Selbstbeherrschung, die mit starkem Arm gehalten hätte, was da zusammen- und auseinanderbrach.

Der eiserne Mensch, der ich gewesen bis zu diesem Zeitpunkt, dessen Herz mehr Narben trägt als die zerfurchte Haut des weißen Wals, dessen Geist und Seele mehr Marter des Zornes, des Hasses und der brennenden Vergeltungssucht ertragen musste als die Kapitän Ahabs, dieser in der Tiefe seines Seins tödlich verwundete, immer wieder und mit steter Wiederkehr bis in die Wurzel seiner Existenz getroffene und verletzte, zu Tode geschundene, missbrauchte und wie eine Hure benutzte Mensch, diese gequälte, gepeinigte, erbarmungswürdig elendiglich misshandelte Kreatur schrie.

Sie schrie ihren unbenannten unermesslichen Schmerz von Jahren und Jahrzehnten hinaus, wehklagend und händeringend, weinend und schluchzend, bebend und zitternd, flüsternd und murmelnd, ohne Zusammenhang, Anfang, Ende, Ursache oder Schluss.
Ich, der ich von klein an geschlagen, getreten, erniedrigt und gedemütigt, meiner Menschenwürde beraubt, um mein Selbstwertgefühl betrogen ein ums andere mal, bis zur Selbstverachtung genötigt und gebrochen, bis zum Selbsthass gequält und gepeitscht wurde, und nun von Leid und Trauer, Schmerz und Ohnmacht überwältigt und bezwungen, erschlagen und gefällt niedersank, ich brach zusammen, und der Zusammenbruch war gewaltig.

Meine Frau, die sich am Lenkrad ihres Wagens festklammerte, musste diese Tragödie hilflos mit ansehen und –hören, und sie erschien ihr wie der Ausbruch einer unbeherrschbaren Elementargewalt, wie das Bersten der Erdachse oder die Explosion der Sonne. Sie saß erschüttert und wie vom Donner gerührt. Aber- und das rettete mich- sie schenkte mir ihr Ohr.

Mir selbst fehlt nämlich und vielleicht zum Glück so gut wie jede Erinnerung daran. Was ich für den Ausrutscher einiger schwacher Minuten hielt, erstreckte sich in Wahrheit über endlose Stunden.