Ansicht eines Geologen zur Entstehung von Depression

Begonnen von Violetta, 26 Mai 2023, 11:20:02

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Violetta

Ich habe am 25.05.2023 die Fernsehsendung Wissen hoch 2, Thema ,,Es werde Mensch" gesehen, in der es um die Entwicklungsgeschichte der Menschheit ging. Ein Geologe sagte in der Sendung sinngemäß folgendes: ,,Der Mensch hat rund 300.000 Jahre als wandernder Jäger und Sammler gelebt. Er hat dabei extreme Warm- und Kaltzeiten erlebt und sich immer wieder an die veränderten Umweltbedingungen angepasst. Menschen sind extrem anpassungsfähig. Unser heutiges Leben unterscheidet sich völlig von dem Leben eines Jägers und Sammlers. Im Urlaub versuchen viele (unbewusst) ein Leben im Rhythmus eines Steinzeitmenschen zu führen. Ein bisschen Sport, ein bisschen Bewegung und viel nichts tun. Wenn die Anforderungen an das moderne Leben die Anpassungsfähigkeit einer Person übersteigen, kommt es zu psychischen Erkrankungen wie Depression."

Die angesprochene Überforderung an die Anpassungsfähigkeit einzelner Menschen ist nicht die einzige Ursache für eine Depression. Es gibt noch viele andere Ursachen. Wenn ich jedoch mein eigenes Leben betrachte, so stelle ich fest, dass mich unser modernes Leben zu einem Lebensrhythmus zwingt, mit dem ich schlecht zurechtkomme und bei mir einen Anteil an der Depression ausmacht. Ich habe einen Vollzeitjob in einer Fabrik. Das bedeutet das ganze Jahr über von Montag bis Freitag um 5:30 aufstehen, zur Arbeit fahren, acht Stunden ohne Unterlass arbeiten (abzüglich 30min Mittagspause) und dann nach Hause fahren. Wie oft habe ich mitten am Tag das Verlangen ein bisschen draußen rumzulaufen, mich ein bisschen in die Sonne zu setzen und mit vertrauten Menschen zu sprechen. Natürlich ,,darf" ich abends und am Wochenende draußen sein. Aber im Winter möchte ich bei Tageslicht draußen sein und wenn ich z.B. an einem Dienstag den starken Drang nach einem Spaziergang spüre, nützt es mir nichts, dass ich in vier Tagen frei habe. Ich arbeite gerne in der Fabrik, aber das starre eingebunden sein in ein Zeitkorsett macht mich ganz krank.

Wie denkt ihr darüber? Kann unser moderner Lebensrhythmus einen Anteil an einer Depression haben, weil bei jemanden die Anpassungsfähigkeit überschritten ist?

gast

eine ungesunde lebensweise kann sich negativ auf die gesundheit auswirken und diverse krebserkrankungen auslösen.

man weiß auch das z.b. wechselschichten und nachtarbeit auch auf die psyche gehen können.

viele psychische erkrankungen werden aber vererbt und und im lebens ist irgend etwas passiert was eine psychische erkrankung ausgelöst hat.

es ist ein mix aus vielen ursachen und unser morderner kann schon zu einem ich dneke eher geringen anteil für psychische erkrankungen verantwortlich sein.


Feli

Ja, leider.

Frage: Wie kommen wir aus dieser ganzen Misere raus? Wer löst dieses Problem?

Violetta

Wie wir aus der Misere rauskommen? Einen generellen Ansatz habe ich nicht. Nur eine Idee, wie ich damit umgehen könnte. Und der heißt in meinem Fall Verweigerung. Seit dem Fernsehbeitrag akzeptiere ich Aussagen wie ,,du bist unnormal" oder ,,du musst dich anpassen" nicht mehr. Sondern ich frage: ,,Ist diese Situation oder Lebensgestaltung vielleicht abartig und eine Anpassung daran in Wirklichkeit krankhaft?" Ich bin an unser modernes Leben so weit angepasst, dass ich meinen Lebensunterhalt verdiene und mit meinen Kollegen, Nachbarn und Mitmenschen in Ruhe lebe. Aber ich werde mich nicht mehr wegen des letzten Restes Nicht-Angepasstheit unter Druck setzten lassen.

Ponyhof

Zitat von: Feli in 11 Juni 2023, 07:07:41

Frage: Wie kommen wir aus dieser ganzen Misere raus? Wer löst dieses Problem?

Och, ich denke das ist eins der Probleme, die sich von selbst lösen. Wenn der Klimawandel so weiter geht, gebe ich diesem Planeten nur noch eine Handvoll Generationen von Menschen. Dann ist dieses Problem Geschichte...

Ina

 
Zitat von: Violetta in 13 Juni 2023, 11:38:33
Und der heißt in meinem Fall Verweigerung.
[...]
Aber ich werde mich nicht mehr wegen des letzten Restes Nicht-Angepasstheit unter Druck setzten lassen.

So lange man damit niemandem schadet, finde ich es völlig legitim, sich nicht anzupassen. Ohne diese ,,Verweigerung" in verschiedenen Bereichen hätte ich meinen Lebenswillen vermutlich gänzlich verloren, weil ich das Leben weiterhin rundum als Qual empfunden hätte.

Die Anpassung, die von einem erwartet wird, empfinde ich teilweise als ziemlich einschränkend. In mancher Hinsicht ist es nötig – keine Frage – aber alles in allem nehme ich mir durchaus das Recht, ,,anders" zu leben. Diesem Druck, gewissen Erwartungen gerecht zu werden, kann und möchte ich nicht (mehr) standhalten.
Love is God's favorite daughter. (David Crosby)

Gast

Wir sind alle nur Teil der Evolution.
Und der einzelnen ist nicht wichtig.
Das Gerede über die Schönheit der Natur
ist doch Unsinn. Die Natur ist Grausam und es gilt das Gesetz des Stärkeren.

Ina

 
Ganz sicher ist es eine Frage der Weltanschauung eines jeden Einzelnen, ob er sich NUR als Teil der Evolution sieht
oder z.B. glaubt, hier auf Erden eine Aufgabe zu haben
oder ob er gar den Wunsch verspürt, etwas zu bewegen
oder ob er vielleicht auch eine gewisse Demut vor dem Leben in sich spürt, WEIL er Teil dieses großen Ganzen ist (oder oder oder...).


Um nochmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen:

Zitat von: Violetta in 26 Mai 2023, 11:20:02
Kann unser moderner Lebensrhythmus einen Anteil an einer Depression haben, weil bei jemanden die Anpassungsfähigkeit überschritten ist?

Ja, ich glaube das und habe es an mir selbst sehr stark gemerkt.
Verbessern konnte sich mein Zustand erst, als ich einen Weg gefunden hatte, mich diesem modernen Lebensrhythmus nicht* anpassen zu müssen.
(* = nicht vollständig / nicht im ,,klassischen" Sinne)
Love is God's favorite daughter. (David Crosby)

Violetta

Zitat von: Gast in 14 Juni 2023, 02:16:07
Wir sind alle nur Teil der Evolution.
Und der einzelnen ist nicht wichtig.
...

Ohne Individuum keine Population, ohne Population keine Evolution. Erst die Summe der Individuen macht eine Population und damit die Evolution möglich. Ich darf mich also an meinen Platz innerhalb der menschlichen Gemeinschaft als wichtig betrachten.

Bildlich dargestellt: Ein Rasen besteht aus einzelnen Grashalmen. Ein einzelner Grashalm kann entfernt werden, ohne dass der Rasen als Gesamtes Schaden nimmt. Wird aber jeder Grashalm als unwichtig betrachtet und entfernt, bleibt kein Rasen mehr übrig. Erst die Gesamtheit der einzelnen Grashalme ergibt einen Rasen.

Melancholie

Was qualifiziert einen Geologen, eine Theorie über das Entstehen von Depressionen aufzustellen? Soll die Erwähnung "Geologe" betonen, dass der Betreffende studiert hat und somit qualifizierter ist als ein Taxifahrer oder eine Raumpflegerin? Das sind die spontanen Fragen, die beim Lesen auftauchen. Mich erinnert das Ganze stark an den Höhepunkt der Corona-Pandemie, als auf einmal ein Physiker sich berufen fühlte, sich zu so hochgradig komplexen Themen wie Virologie oder Epidemiologie zu äußern. Dabei kann nichts Vernünftiges herauskommen.

Da fällt mir das schöne Sprichwort ein: "Schuster, bleib bei deinen Leisten."

Feli

Hallo Melancholie,

jetzt musste ich lachen beim Lesen Deines posts :D

Zum einen finde ich, dass Du absolut Recht hast und zum anderen hätte besagter Geologe von mir aus auch Putzfrau, studierter Theologe oder Wissenschaftler vom Stern Beteigeuze sein können. Mir war gar nicht wichtig, welcher Tätigkeit er genau nachgeht, sondern mich hatte einfach nur seine Feststellung darüber interessiert, dass unser heutiges Leben (eingepresst in irgendwelche Zeitvorgaben) Depressionen den Vorschub leisten kann, wenn man gezwungen ist, permanent gegen den eigenen Biorhythmus zu arbeiten.

Aber erst durch Deinen post ist mir das wieder so ins Bewusstsein gekommen :)

Violetta

An Melancholie,
wer zitiert, nennt wer, wann und wo etwas gesagt (oder geschrieben) wurde. Weil ich das Ganze aus dem Gedächtnis zitiert habe, konnte ich nur noch den Beruf des Mannes nennen. Ohne den Kontext der gesamten Sendung wirkt es schon etwas merkwürdig, dass ein Geologe eine solche Aussage macht. Im Kontext der gesamten Sendung und den anderen Sprechern jedoch nicht. Wer sich die Sendung selber ansehen möchte, findet sie in der Mediathek unter: zdf.de/wissen/scobel

Interessant fand ich jedoch, was der Mann gesagt hat, weil es bei mir einen "Aha-Effekt" ausgelöst hat und ich neugierig war, ob es anderen ähnlich geht.

Melancholie

Tja, was soll ich sagen, jeder glaubt, was er oder sie glauben möchte. Depressionen, oder zumindest einen wichtigen Faktor dafür, auf etwas zurückzuführen, was außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten liegt, ist verführerisch. Es enthebt uns der Verpflichtung zu schauen, was wir jetzt, hier und heute ändern können. Wenn dann noch nebulöse Begriffe wie "das moderne Leben" dazu kommen, dann wird es noch einfacher. Darunter kann sich jeder etwas anderes vorstellen, Vorstellungen wie "die gute alte Zeit" kommen ins Spiel, die bei genauer Betrachtung niemand wirklich zurück haben möchte. Wer aber "Wie denkt ihr darüber?" unter den Beitrag schreibt, muss damit rechnen, dass eine Antwort kommt, die nicht in den Kram passt.

Wenn ich unter anderem bei Scilogs oder ScienceBlogs nach dem Thema Depression suche, dann stoße ich primär darauf, dass sie ein weitgehend ungeklärtes Phänomen sind. So weiß zum Beispiel niemand, warum SSRIs bei manchen Menschen wirken und bei anderen nicht. Oder ob der Einfluss des Serotoninspiegels total überschätzt wurde. Ich bin Pragmatiker und deswegen schaue ich lieber, was ich heute an meinem Leben verbessern kann, statt mir Gedanken um die Zeit der Jäger und Sammler zu machen, zu der wir garantiert nicht zurück wollen. Denn bei allem Lamentieren über die Nachteile der modernen Zeit möchte bestimmt niemand auf die Annehmlichkeiten verzichten, die sie uns beschert.

... und wech

Violetta

Genau das ist es eben: Depression ist eine komplexe Krankheit, die von den Symptomen her beschrieben wird, deren Ursachen aber noch nicht eindeutig erkannt sind. Vielleicht verbergen sich hinter den Symptomen auch verschiedene Krankheiten. Die Grenzen der Anpassungsfähigkeit kann genauso eine der vielen Ursache für eine Depression sein, wie ein Vitamin D-Mangel oder sonst etwas.

Bei mir gibt es Bereiche, in denen ich mein ganzes Leben erfolglos versucht habe mich anzupassen. Und dieser endlose Kampf an das Diktat der Anpassung hat mich traurig, müde, hoffnungs- und antriebslos gemacht. Ein Beispiel: Ich fahre regelmäßig mit der S-Bahn. Aber ich kann nicht damit fahren, wenn sie so voll ist, dass es zu Körperkontakt mit drei bis vier fremden Personen kommt. Her reicht meine Anpassungsfähigkeit an die Unterschreitung der Fluchtdistanz nicht aus.

Ich möchte nicht in der Steinzeit leben, dafür finde ich unser modernes Leben viel zu angenehm. Die Erkenntnis, dass die Überschreitung meiner Anpassungsfähigkeit ein Grund unter mehreren für meine Depression ist, eröffnet mir neue Perspektiven mein Leben passend zu meinen Fähigkeiten zu gestalten. Nicht mehr Anpassung um jeden Preis, sondern - wo ist der Arbeitsplatz, der zu mir passt.

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