5 Monate "trocken" Wozu?

Begonnen von hardworking fool, 14 September 2016, 10:22:38

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hardworking fool

Hallo! Heute bin ich seit genau 5 Monaten "trocken" - nicht dass ich wirklich alkoholabhängig gewesen wäre, aber ich habe doch sehr gern eine Flasche guten Weins und auch des Öfteren ein oder mehrere Gläser eines edlen Gins getrunken. Ich würde sogar sagen, dass das die einzige Freude, der einzige Genuss war den ich in den letzten Jahren hatte.
Nach Problemen in der Arbeit und dem Beginn meiner Psychotherapie habe ich aus freien Stücken auf Alkohol verzichtet und seitdem ich meine Medis nehme ist Alkohol sowieso tabu.
Merkwürdigerweise fiel es mir überhaupt nicht schwer das Trinken sein zu lassen und es ging mir auch ziemlich gut.
Im Augenblick (vor allem in den letzten zwei Wochen) ist es aber so, dass ich mich die ganze Zeit frage, wozu? Ich sehe einfach keinen Sinn mehr darin mir das einzige, was mir noch irgendwie Vergnügen bereitet hat, zu verkneifen.

hardworking fool

Eine Therapie mache ich bereits. Ansonsten habe ich schon sehr das Gefühl, dass mein Leben momentan nicht allzu viel Sinn macht. Ich arbeite zur Zeit in einem Job in dem ich über kurz oder lang ganz sicher verblöden werde. Die meisten meiner Kollegen kommen schon beim Lesen der BILD-Zeitung an ihre intellektuellen Grenzen. Sämtliche Gespräche scheinen sich nur um Diäten, Fußball und Urlaubsplanung zu drehen -  und um die Frage in welchen Kneipen es die billigsten Cocktails gibt und welche Biergärten das beste Bier ausschenken.
Die Arbeit selbst ist auch ziemlich stupide. Die meiste Zeit des Tages hocke ich einfach dumm rum und warte auf den Feierabend. Und wenn doch mal Kundschaft kommt, muss ich nur ein paar Türen öffnen und damit hat es sich.
Ich habe mir schon überlegt, ob ich vielleicht noch ein Zweitstudium Psychologie anfange - Zeit genug hätte ich. Aber wie soll das gehen? Wo doch selbst das Zusammensuchen der benötigten Unterlagen eine nahezu unmögliche Aufgabe darstellt?

hardworking fool

Hallo Pudel,
eigentlich hast du recht. Was kann mir schon passieren? Wenn ich das mit dem Studium nicht auf die Reihe kriege ist das zwar vielleicht ein (harter) Schlag für mein Ego, aber ein Weltuntergang wäre es wohl nicht. Schließlich habe ich schon ein Studium erfolgreich abgeschlossen - auch wenn das aus heutiger Perspektive betrachtet ziemlich für die Katz war.
Also Danke für Deine Worte!
Fool

Und trotzdem würde ich jetzt am liebsten ein großes Glas Gin Tonic trinken. :-?

hardworking fool

Danke Pudel, für deine netten Worte,
allerdings fällt es mir im Augenblick schwer auf irgendetwas stolz zu sein. Ich weiß nicht, ob es wirklich so eine großartige Leistung ist nichts zu trinken. Nichts zu tun scheint im Moment das zu sein was ich am allerbesten kann. Vielleicht das einzige was ich kann. Um etwas zu trinken müsste ich ja erst mal Alk besorgen - und dazu müsste ich ja das Haus verlassen. Das tue ich im Augenblick nur wenn es unvermeidbar ist z.B. weil mein Kleiner in die Schule muss oder weil nichts essbares mehr im Haus ist.

Blöd nur, dass ich im Supermarkt nicht am Weinregal vorbei gehen kann ohne mir alle Flaschen genau anzuschauen.

Freudestrahlend

Hallo Fool,
seltsamerweise stelle ich mir gerade dieselbe Frage (Warum trocken sein/bleiben?), nur bei mir sind es 21 Jahre und ich war wirklich eine sehr starke Trinkerin. Auch mir fällt es schwer, darauf stolz zu sein.

Ich dachte immer, ich hätte aufgehört, weil ich noch etwas mit meinem Leben vorhatte und das MIT Saufen nicht geklappt hätte (Ausbildung machen zum Beispiel, um eine berufliche Perspektive zu haben). Heute denke ich, ich habe hauptsächlich aufgehört, weil es sich buchstäblich so sch***e angefühlt hat: der ewige Hangover, Zittern, Übelkeit, Durst, Scham etc.

Vielleicht ist es aber auch so, dass ich aufgehört habe, weil ich dachte, dass sich dann meine Probleme besser lösen (lassen): mein Minderwertigkeitsgefühl, meine mangelnde Lebensfreude. Und jetzt sitze ich hier, bin mit dem Ergebnis nicht zufrieden und frage mich ob es die Mühe wert war.

Was ich damit sagen will: Es gibt viele unterschiedliche Gründe, die auch noch je nach Lebensphase wechseln (können). Ich denke, du hattest auch gute Gründe und hast womöglich immer noch welche. Dass du sie nicht sehen kannst, hängt vielleicht damit zusammen, dass du doch abhängiger bist als du dir eingestehen möchtest. Das ist nämlich ein typisches Symptom - partout keinen Grund mehr zu finden, warum man NICHT trinken sollte.

Alkohol verändert deine Wahrnehmung und wenn es dir gerade nicht gut geht, ist das eine verlockende Vorstellung. Aber vielleicht solltest du (eventuell auch mit Hilfe von außen) deinen Wunsch zu trinken noch einmal unter die Lupe nehmen.

Ich wünsche dir viel Kraft und Erkenntnis für einen guten Weg.
Freude
Most people do not listen with the intent to understand, they listen with the intent to reply.

hardworking fool

Hallo Freudestrahlend,
vielen lieben Dank für Deine Worte. Vielleicht können wir gemeinsam eine Art Pakt schließen? Ich fange nicht wieder das Trinken an wenn Du trocken bleibst und umgekehrt. :-) Haben wir einen Deal?

Warum ich aufgehört habe ist eigentlich ganz simpel: Meine Therapeutin hatte von mir einen Non-Suizidvertrag verlangt. Kurz danach las ich ein Zitat in so einer Sprüchesammlung:
"Alkohol ist die langwierigste und kostspieligste Art Selbstmord zu begehen." Das war's.

Für mich war der Alk der Versuch, die Depression selbst zu behandeln. Vielleicht ist das der Grund warum ich im Augenblick so einen Druck verspüre. Meine letzte Therapiesitzung ist verdammt lange her...
Alles Gute für Dich!

Deja

Hallo hardworking fool,

warum ist denn dein Kleiner nicht Grund genug, mit dem Alk aufzuhören? Und ich finde es eine große Leistung, trocken zu bleiben. Wenn es im Moment so ist, daß nichts anderes geht, ja, dann ist es eben so. Trocken bleiben ist doch auch nicht "Nichts"! Dafür muß man hart arbeiten.
Das Zitat kenne ich auch und ich kann dir sagen, es stimmt. Warum denkst du, "das wars"? Was soll denn dann sein?

Ich weiß, man soll immer für sich selbst weiterleben aber ich habe meine schlimmsten Zeiten überstanden, weil ich Verantwortung für meinen Sohn hatte. Die Thera waren damals damit einverstanden, denn sie sagten, besser ich lebe für
meinen Sohn als gar nicht. Also hab ich das gemacht. Und es hat funktioniert. Nein, ich bin nie wieder die Alte geworden und manchmal vermisse ich die alte Deja.
Aber viel war mit der alten Deja, nicht ok, und das hat überwogen sonst wäre ich nicht krank geworden.

Es gibt doch Entzugsmedikation, wäre das eine Alternative?

LG Deja

hardworking fool

Hi Deja,

das Problem ist, dass ich manchmal das Gefühl habe mich würde keiner vermissen. Mein "Kleiner" wird bald auf eigenen Füßen stehen und bis dahin kommt er ganz gut ohne mich zurecht. Die Hälfte der Zeit ist er sowieso bei den Großeltern weil ich beruflich oft unterwegs bin.

Ach so. Das mit dem "Das war's" war anders gemeint. Als ich den Spruch mit Alk=Selbstmord gelesen hatte dachte ich mir, "Okay, wenn Du nun schon versprochen hast, dich nicht umzubringen, dann musst du auch mit dem Trinken aufhören!" "Das war's" dann mit dem Alkohol. :-)

Entzugssymptome hatte ich merkwürdigerweise nie. Eigentlich war es anfangs sogar ganz einfach auf den Alk zu verzichten. Ich habe es allerdings niemandem gesagt, damit ich im Falle eines Rückfalls mich nicht hätte rechtfertigen müssen. Dass ich die letzten Jahre eigentlich nie nüchtern gewesen bin, hatte ja auch keiner gemerkt. 

Liebe Grüße Fool

Deja

Hey,

ok, das Gefühl kenne ich gut. Mein Sohn wird jetzt 18J und ich bin somit als Bezugsperson auch nicht grad gefragt :-)!
Aber ehrlich? Ich bin froh darüber. Darüber endlich wieder an mich denken zu können. 18J war mein Leben auf ihn ausgerichtet und ich merke, das es genug ist.

Aber Du hast Menschen, die dich vermissen. Die Großeltern? Arbeitskollegen?

Ich finde, Du hast doch einen guten Weg gefunden. Egal, bei einem ein Spruch, beim anderen eine Erfahrung....solange es funktioniert.....der Weg ist das Ziel. Und den bist du 5 Monate gegangen. Darauf kannst du stolz sein. Auch wenn du es nicht hören willst. Halte dir vor Augen, wieviele Menschen es gibt, die es nicht schaffen. Keine 5 Tage, keine 5 Wochen, keine 5 Monate!

LG Deja

hardworking fool

Hallo Deja,

manchmal habe ich Angst vor dem Tag an dem mein Sohn 18 wird. Ein bisschen Zeit habe ich aber noch, nächsten Monat wird er 16.
Andererseits ... keinen Ärger mehr mit der Schule, keine Diskussionen über die ganzen schrecklichen Dinge auf die man als Mutter eben achten muss ... Erziehungsfragen ... Disziplinprobleme ... Liebeskummer ... Klingt tatsächlich nicht schlecht.

Hmmm. Falsche Frage. Sicher, meine Eltern würden mich vermissen, aber sonst...? Die letzten Jahre habe ich stets nur Kurzzeitverträge gehabt, mal ein halbes Jahr hier, mal ein paar Wochen dort... Nicht genug Zeit um wirklich Freundschaften mit Kollegen aufzubauen. Jetzt habe ich zwar seit Oktober einen festen Job, aber auch da habe ich noch kaum Kontakte geknüpft. Man arbeitet dort nicht so sehr miteinander als neben einander her. Blöd ist halt auch, dass ich zwischen zwei Wohnorten zu pendeln gezwungen bin, eine Woche hier, eine Woche dort, da fallen selbst Volkshochschulkurse weg und auch im Sportverein ist es blöd, wenn man nur gelegentlich zum Training kommen kann. Theater kann ich auch nicht mehr spielen, weil ich keine Zeit für die Proben habe.
Ich hatte zwar früher ein paar wenige "gute" Freunde, aber als ich nicht mehr "nützlich" war, verwandelte ich mich in eine heiße Kartoffel.

Brrr, was für ein frustrierender Gedanke am frühen Morgen!
Thank God it's Friday!
LG Fool

Freudestrahlend

Hallo Fool,
der Deal gilt! Und selbst wenn ich nicht trocken bleiben sollte, musst du erst einmal die 21 Jahre vollmachen. :o) Aber mach dir keine Hoffnungen: Ich fange nicht wieder an.

Machet jut,
Freude
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Junehoney

Hey Fool.
Du schriebst, du hast vllt. versucht deine Depression mit Alkohol zu behandeln.
Dazu fällt mir ein, was meine Freundin gestern zu mir sagte: es geht dir gerade so schlecht, weil du deine üblichen Schutzmaßnahmen aufgegeben hast und nun die Baustelle der letzten Jahre betrachtest.
Bei mir war es nicht der Alkohol. Aber Schutzmaßnahmen haben wir ws. Alle.
Vielleicht ist es bei dir ja auch so? ;-)

hardworking fool

Sorry, sorry, sorry. Gestern ist es passiert. Eigentlich mehr aus Versehen, aber das tut nichts zur Sache. Und erwartet jetzt nicht, dass ich erkläre wie man versehentlich Alkohol trinken kann. Dazu muss man schon besonders bescheuert sein. Das erfordert Talent.
Jedenfalls habe ich gestern eine Weinschorle getrunken. Merkwürdigerweise eine recht interessante Erfahrung. Sie kam mir so stark vor als bestünde sie aus mindestens 45% Alkohol und nach zwei, drei Schlucken fühlte ich mich weitaus besoffener als früher nach 1 Flasche Wein + 1/2 Flasche Gin. Eigentlich wollte ich den Rest wegschütten, aber da waren so viele Leute um mich, dass ich es irgendwie nicht fertig gebracht habe.
Ich musste danach tatsächlich mein Fahrrad schieben. Ich traute mir nicht mehr zu damit sicher nach Hause zu fahren. Und heute habe ich sogar so etwas wie einen Kater.
Einen positiven Effekt hatte das Ganze jedoch. Früher dachte ich bei Alkohol an "lecker Geschmack" heute wird mir bei dem bloßen Gedanken schlecht. Das kann von mir aus gerne so bleiben.
Tut mir leid, Freudestrahlend, dass ich den Deal gebrochen habe. Gibst Du mir eine neue Chance?
LG Fool (selten fand ich den Namen so passend!)

Freudestrahlend

Hallo FoolFoolFool,
ich wäre arrogant, wenn ich den Deal jetzt fallenlassen würde (btw jetzt könnte ich ja auch etwas trinken... nein, ich mach nur Quatsch). Nicht nur, dass ich in 21 Jahren sehr viele Möglichkeiten kennengelernt habe, "aus Versehen" Alkohol zu trinken, sondern ich hatte vor dieser Zeit drei ernsthafte Entzüge mit ebensovielen Rückfällen. Wie Pudel schreibt: Es ist wichtig daraus zu lernen.

Was mir aber wirklich zu denken gegeben hat: "Eigentlich wollte ich den Rest wegschütten, aber da waren so viele Leute um mich, dass ich es irgendwie nicht fertig gebracht habe." Daraus lese ich, dass das Nicht-Trinken bei dir eine niedrigere Priorität hat, als das, was andere von dir/über dich denken. Vielleicht solltest du dir darüber auch mal Gedanken machen und deine Motivation überprüfen.

Und - Junehoney schrieb ja auch schon etwas davon - du solltest daran denken, dass das Trinken eine starke Kraft ist. Es ist deshalb normal, dass dir da etwas fehlt und du könntest nach Alternative suchen.

Ich hoffe, du meinst es ernst.
Grüße, Freude
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hardworking fool

Hallo Freude,
schuldig im Sinne der Anklage. :-) Ja, es ist mir extrem wichtig was andere von mir halten. Wobei ich selbst mich sehr viel härter beurteile als es jeder andere könnte. Daran beiße ich mir im Augenblick mit meiner Therapeutin ziemlich die Zähne aus. Sie meint immer, ich solle mich darauf konzentrieren was ich gut kann. Nun, ich kann mich extrem gut selbst fertig machen.

Was ich aber am gestrigen Erlebnis so spannend fand: Bevor ich den endgültigen Entschluss gefasst hatte nichts mehr zu trinken, versuchte ich lange Zeit es mit einer Art Autosuggestion / Selbsthypnose. So ähnlich wie bei manchen Rauchern die Hypnose zum Aufhören helfen soll. Jedenfalls habe ich mir über Monate immer wieder "eingeredet" dass ich den Geschmack des Alkohols widerlich finde und dass ich merke wie mir der Alk schadet. Es schien überhaupt nichts zu bewirken und so versuchte ich es dann mit einem klaren Schnitt. Von einer Minute auf die andere hörte ich auf, schüttete die letzten Reste ins Klo und damit hatte es sich.
Jetzt frage ich mich, ob die Autosuggestion nicht vielleicht doch Wirkung zeigte. Das gestern war jedenfalls grässlich. Immerhin ist der Kater wieder weg - bis auf das offenbar kurz vor dem Verhungern stehende graue Tier welches sich gerade auf meine Tastatur legt damit ich nicht weiter schreibe und endlich mit ein paar Leckerlis herausrücke.

Danke, Freude, für die 2. Chance. Diesmal werde ich es nicht wieder verbocken. Versprochen!